Inflation, Immobilien-Misere, Konsumboykott – nach Jahren des ungebremsten Wachstums geraten jetzt auch vormalige Boom-Regionen in Osteuropa in die Krise. Besonders betroffen ist die Baltenrepublik Estland.
Wer in Estland etwas auf sich hält, kauft eine Immobilie in Merirahu. Die Wohnung in dem exklusiven Quartier nahe der Hauptstadt Tallinn können sich nur die ganz Reichen leisten. Ein schmiedeeiserner Zaun trennt die Auserwählten von den übrigen Esten. Kameras überwachen ungebetene Gäste. Im lichten Kiefernwald hingewürfelt sollen hier Häuser von skandinavischer Eleganz entstehen. Viel Holz, große Fenster, ein eigener Yachthafen ist in Planung.
Doch noch macht sich die Hautevolee rar. Nur ein Bruchteil der Häuser auf dem edlen Areal ist fertig. Überall gähnen leere Fensterhöhlen, ragen rohe Betonskelette, Unkraut wuchert auf Sandhaufen. In Merirahu geht derzeit nicht viel. Kein Wunder, Estlands Immobilienblase ist geplatzt. Um über 40 Prozent ist der Wert der Transaktionen von Grundstücken im zweiten Quartal zurückgegangen. Die Krise hat selbst die wohl teuerste Wohnlage des Landes erreicht.
Estland – einst gefeierter Superstar unter Osteuropas aufstrebenden Wirtschaften – steckt in der Rezession. Um 1,4 Prozent schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal des laufenden Jahres gegenüber dem Vorjahreszeitraum, dabei hatte das Land noch 2007 mit mehr als sieben Prozent Wirtschaftswachstum abgeschlossen. Jetzt aber liegt die Bauwirtschaft darnieder. Die Inflation kletterte mittlerweile auf über elf Prozent – eine der höchsten Raten der EU.
Es ist der Kater nach der Party: Ende der neunziger Jahre hatte die Baltenrepublik eine Aufholjagd sondergleichen gestartet. Das nahe, technikbegeisterte Finnland stand Vorbild. Tallinn computerisierte den Geldverkehr, stellte die Verwaltung auf das Internet um. In Kaufhäusern und Kinos bezahlten die Esten per SMS. Sogar Wahlen entscheiden sie per E-Mail am Computer. Als E-Stonia wollte das Land international bekannt werden.
Nach fast 50 Jahren staatlicher Planung setzten die Regierungen in Tallinn dabei auf marktradikale Methoden: Die Kündigungsfristen wurde teilweise auf bis zu einen Monat geschrumpft, das Einkommenssteuersystem auf einen einheitlichen Satz von derzeit 22 Prozent vereinfacht. Und jahrelang bestätigten die traumhaften Wachstumsraten den Kurs der Regierung.
Folgen einer nicht vorhandene Industriepolitik
Doch jetzt geraten die Marktmethoden immer mehr in die Kritik. Zu den Skeptikern gehört Rainer Kattel. Zum Gespräch trifft er sich gerne im “Pegasus”. Das Restaurant in der malerischen Tallinner Altstadt ist mit Designmöbeln eingerichtet. Hier sitzen Gewinner, sie schlürfen leichten Weißwein aus Italien zu Tunfisch-Steak im Wasabi-Mantel. Die Preise gleichen denen in westlichen Metropolen. Kaum irgendwo lässt sich der Wandel von sozialistischem Muff zu kapitalistischem Glamour besser bestaunen.
Kattel ist 34 Jahre alt und Professor an der Tallinner Technischen Universität, er trägt dekorativ zerrissene Jeans und Sommerschlappen. Es waren ganz junge Leute, die das Land nach dem Kommunismus wieder aufgebaut haben. Noch heute gehören in den Führungsetagen der Unternehmen und den Ministerien 40-Jährige zu den Älteren. Kattel kann die Misere in wenigen Sätzen analysieren: “Wir haben es uns zu einfach gemacht, nur liberalisiert statt eine strategische Industriepolitik zu betreiben”, sagt er.
Estland hatte enorme Investitionen ins Land gelockt. Skandinavier kauften vor allem Banken und Immobilien auf. So kam viel Geld herein. Begeistert hätten sich die Esten in den Konsum gestürzt – den sie auch noch auf Pump finanzierten. Das hätte Wachstum erzeugt, das aber leider nicht nachhaltig gewesen sei, sagt Kattel. Nun fehlt es dem Land an Substanz. Estland produziert und exportiert zu wenig. “Wir waren besoffen von unserem Erfolg und dachten, es geht ewig so weiter”, analysiert der Fachmann.
Als billiger Produktionsstandort für westliche Konzerne hat sich die 1,4-Millionen-Republik nie so gut geeignet wie beispielsweise die Slowakei – schließlich liegt Estland so weit in Richtung Sonnenaufgang, dass die Ostsee hier Westmeer genannt wird. Ohnehin sind estnische Arbeitskräfte schon lange nicht mehr billig. Um 30 Prozent wuchsen die Löhne in einigen Bereichen allein in den vergangenen drei Jahren.
Der jähe Absturz kam, als die US-Bankenkrise auch Europa erfasste, als die steigenden Öl- und Lebensmittelpreise die Inflation anheizten. Innerhalb weniger Wochen brach das Konsumentenvertrauen der Esten zusammen. Sie hielten fortan lieber ihr Geld zusammen, statt sich Wohnungen oder Autos zu leisten. Der Immobilienmarkt und die Baubranche – Estlands wichtigste Wachstumsmotoren – stockten.
Die Politik reagiert nach bewährter Methode: Demnächst sollen die direkten Steuern noch weiter gesenkt und die Kündigungsfristen auf bis zu zwei Wochen reduziert werden. Dabei – so meint nicht nur Kattel – hätte Estland in Bildung investieren müssen. Statt ausschließlich auf ausländische Geldgeber zu setzen, hätte die Regierung einheimische Unternehmer und ihre Ideen mit Starthilfen oder Lohnzuschüssen stärker fördern sollen.
Und so ist die IT-Firma Skype die einzige globale Erfolgsgeschichte, des Zwerglandes, das so gerne ein Hightech-Riese sein möchte. Skype stellt im Internet ein Programm zu Verfügung, mit dem PC-Besitzer umsonst und mit Bild weltweit mit anderen PC-Nutzern telefonieren können. Gebühren kassiert Skype nur für Telefonate in die normalen Festnetze und zu Mobiltelefonen. Bei 338 Millionen Nutzern der Software reicht das für einen Umsatz von 136 Millionen Dollar im zweiten Quartal 2008.
“Das Wahnsinnswachstum hat Estland faul gemacht”
Skype residiert etwas außerhalb der Innenstadt, direkt neben der Technischen Universität hat die Firma ein paar nüchterne Büroetagen gemietet. Rund 300 Leute sind hier beschäftigt. Vor dem Eingang drängeln sich Mountainbikes im Fahrradständer, die Sekretärinnen duzen Gäste und führen durch die Gruppenbüros, die allein mit Flachbildschirmen und vereinzelten Pflanzen möbliert sind.
Sten Tamkivi, der Generalmanager für Estland und den weltweiten E-Commerce, trägt T-Shirt und Shorts. Er ist gerade 30 geworden: “Wir brauchen hier die Besten der Besten, und es wird immer schwieriger, neue Leute zu finden.” Insgesamt arbeiten in der estnischen IT-Branche gerade mal 10.000 Leute, schätzt Tamkivi. Das ist nicht viel für ein Land, das seine Wirtschaft auf Hightech gründen will.
Die Liberalisierungen der vergangenen Jahre seien richtig gewesen. Doch laut Tamkivi hätte die Politik dafür sorgen müssen, dass noch mehr Spezialisten an estnischen Universitäten heranwachsen. Dazu hätten die Hochschulen reformiert und üppiger mit Geld ausgestattet werden müssen. Es sei fast unmöglich für Skype, ausländische Experten ans Westmeer zu locken. Doch die Regierenden blieben fast untätig: “Das Wahnsinnswachstum hat Estland faul gemacht”, sagt Tamkivi.
Von Jan Puhl
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