Alfons Huckebrink stellte seine „Königsberger Küsse“ vor

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Alfons Huckebrink stellte in der Rosta-Buchhandlung seine „Königsberger Küsse“ vor. (Foto: -ber-)

Münster. Sehnige Fleischlappen, die sich um mürbe Knochen schlingen, das knirschende Sägen durchs Gebein, unterlegt vom Stöhnen und Schreien der Verwundeten – ein Zuckerschlecken war eine Amputation vor 200 Jahren nicht. Der Münsteraner Alfons Huckebrink hat seine Leser in den „Königsberger Küssen“ nicht geschont: Die intensiven Eindrücke verschmelzen beim Lesen unweigerlich mit der eigenen Wahrnehmung. Am Donnerstagabend stellte er in der Buchhandlung Rosta seinen neuen Roman vor.

Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen – getreu diesem Motto aus Goethes Wilhelm Meister hat Huckebrink mit den „Königsberger Küssen“ einen Reiseroman par excellence vorgelegt: Es ist die Geschichte von Crispin Farwick, der im Jahr 2005 von Hannover aus ins russische Kaliningrad reist – auf einer Reise, bei der die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen.

Farwick will in Kaliningrad Nachforschungen über den napoleonischen Arzt Jean-Dominique Larrey anstellen, der im Winter 1812/13 den Rückzug der Armee Napoleons begleitete. Damals gehörte Kaliningrad noch nicht zu Russland und hatte einen anderen Namen: Die Stadt hieß Königsberg und war Hauptstadt Ostpreußens – und Geburtstadt Immanuel Kants.

Auf 162 Seiten entwickelt Huckebrink ein Panorama des heutigen Kaliningrad. Immer wieder berichten Einschübe aus der Arbeit des Arztes Larrey im Winter 1812/13: Er hat die Verwundeten behandelt und, wenn es nötig war, Amputationen vorgenommen. Keine leichte Aufgabe, unter freiem Himmel, wenn es zur Betäubung der Patienten nur Wein gibt, und selbst der oft nicht verfügbar ist. Die Amputationen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch und erzeugen die markantesten Bilder: Blut, Schreie, zerstörte Knochen. Doch „Königsberger Küsse“, das ist auch eine Geschichte der Begegnungen: zwischen Zeiten, Menschen und Systemen. Und so trifft Crispin auf der Busfahrt nach Kaliningrad die junge Russin Valentina . . .

Nebenbei lernt man: Über die wechselhafte Geschichte der Stadt, die Arbeit eines Arztes vor 200 Jahren – und wie man mit zwei Gläsern Wasser einen echten Bernstein von einer Täuschung unterscheiden kann: Bernstein schwimmt nämlich in Salzwasser, geht in Süßwasser aber unter. Und die Königsberger Küsse? „Das ist ein fiktives Gebäck“, verrät Huckebrink. „Das Wortspiel mit den Königsberger Klopsen ist beabsichtigt. Aber sie haben eine tiefere Bedeutung für den Roman.“

VON MARIA BERENTZEN

Alle russischen Lieder handeln von Abschied

Lena Gorelik beschreibt eine Reise nach Sankt Petersburg

von Behrang Samsami

amazon Bücher über Russland haben derzeit Konjunktur. Seien es nun Biografien über den ehemaligen Präsidenten Wladimir Putin, Sachbücher über das allmächtige staatliche Wirtschaftsunternehmen Gazprom oder sozialkritische (Fernseh-) Reportagen westlicher Journalisten über die einstige Supermacht im Osten Europas. In Deutschland herrscht ein großer Bedarf nach Informationen über die neuesten Vorgänge in diesem für viele nach wie vor unbekannten Land, dem die Verlage nun mit einer Fülle von Neuerscheinungen und Übersetzungen ausländischer Bücher beizukommen versuchen.

Aus dieser großen Menge von Russland-Texten hebt sich ein kleines Buch heraus, das im Gegensatz zu den oben genannten Werken einen sehr persönlichen und dabei humorvollen Einblick in das russische Alltagsleben gewährt, weil es sich in erster Linie nicht mit der hohen, sondern mit der kleinen Politik der einfachen Menschen befasst. Der Titel des Buches lautet: "Verliebt in Sankt Petersburg". Die Autorin heißt Lena Gorelik.

Wer den Lebenslauf dieser jungen Frau kennt, der weiß, dass sie ganz besonders dazu prädestiniert ist, über Russland zu schreiben. Wer nicht, dem mögen einige Informationen über sie Auskunft geben: Geboren 1981 im früheren Leningrad. Einwanderung mit ihrer russisch-jüdischen Familie als "Kontingentflüchtling" in die Bundesrepublik im Jahre 1992. Danach Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Erfolgreiche Teilnahme am Elitestudiengang "Osteuropastudien". Und fast nebenbei noch zwei erfolgreiche Romane: "Meine weißen Nächte" (2004) und "Hochzeit in Jerusalem" (2007).

Nun liegt ihr drittes Buch vor: "Verliebt in Sankt Petersburg" (2008). Der Klappentext spricht von einem "sehr persönlichen Reisebuch". Und in der Tat: Lena Gorelik lässt ihre Leser von Anfang an an ihrer "russischen Reise" teilhaben. Nicht jedoch, ohne den Nichtrussen immer wieder augenzwinkernd Tipps zu geben, was man – nein vor allem, was man nicht – alles tun soll, um den Aufenthalt in ihrer alten Heimatstadt so unkompliziert wie möglich zu gestalten, ja, um am Ende vielleicht sogar wie sie selber "verliebt in St. Petersburg" zu sein. Wenn man das als Tourist schon nicht erleben sollte, als Leser wird man es – dank der (tragi-)komischen Schreibweise der jungen Schriftstellerin.

Immer wieder muss man bei der Lektüre ihres Buches vor sich hinlächeln. Wie kommt einem das Ganze – die Vorbereitung, die Reise und schließlich die Rückkehr – aus eigener Erfahrung bekannt vor: Der unvermeidliche Gang auf die Botschaft mit ihren nicht gerade immer hilfsbereiten Mitarbeitern, die Angst vor dem schon öfter überholten und nichtsdestoweniger klapprigen Flugzeug. Das ist ja aber noch gar nichts im Vergleich zur Verwandtschaft, die gastfreundlich und überschwänglich, aber genauso schnell beleidigt ist, wenn man nicht ihre Stadt mit all den Sehenswürdigkeiten über alles andere lobt. In ihrem Fall kommt dazu noch der russische Alltag, der ganz normale Wahnsinn…

Lena Gorelik macht vor, wie man die Reise am Besten übersteht und dabei sein Lächeln nicht verliert: Mit Humor, mit sehr viel Humor. Trotz Zusammenbruch der Sowjetunion, Namensänderung und erstmaliger Demokratie (allerdings auf russische Art) hat sich das Alltagsleben der Durchschnittsrussen seit den Zeiten der Kommunisten in Sankt Petersburg nicht wesentlich verändert – nein, es ist vielleicht noch schlechter, noch teurer, das Leben noch härter geworden als früher.

Zusammen mit einem deutschen Freund namens Jost, der sie auf ihrer Reise begleitet, wohnt die junge Frau bei hinreißend liebevoll-nervigen Verwandten, die sie unbedingt verheiraten und wieder zu einer "richtigen Russin" machen wollen. Sie taucht wieder ein in ein für sie scheinbar längst vergangenes Leben mit seinem Aberglauben, seinen Traditionen und auch schrägen Liebenswürdigkeiten, die dabei zu einem guten Teil der zur Normalität gewordenen Mangelwirtschaft in Russland geschuldet sind. Mit Jost schlendert sie schließlich durch ihr altbekannte Straßen und Läden und zeigt ihm sämtliche Sehenswürdigkeiten der Stadt – ohne dabei die Pannen und ungewollt komischen Situationen auszulassen.

Doch während man auf so unterhaltsame Art und Weise viel über das russische Alltagsleben erfährt und dabei bezüglich so einiger Mythen – der russischen Frau, des Wodkas und der "weißen Nächte" – entzaubert wird, wird einem aber auch immer stärker die große Traurigkeit des Ganzen, die im Subtext stets mitschwingt, gewahr: Alles Lachen ist letztlich Maskerade, weil notwendig, um die Härten und Ungerechtigkeiten, vor allem aber die scheinbare Unveränderbarkeit des Lebens in Russland einigermaßen erträglich zu machen: "Russen trinken Wodka. Sie tun es aber auf eine ästhetisch schöne, ja, fast schon poetische Weise. Sie tun es nicht, um ,gut drauf zu sein’, sie werden nicht lustig und nicht verrückt. Sie werden melancholisch."

Was bleibt am Ende nach der Lektüre von Goreliks Reisebuch? Ein lachendes und ein weinendes Auge. Und die Erkenntnis, dass die Freude und die Trauer der Russen vielleicht deshalb stets so groß ist, weil ihr ganzes Dasein mit all seinen Schwierigkeiten ihnen immer wieder die Kürze des Glücks bewusst werden lässt: Nichts ist sicher und selbstverständlich, alles muss wieder und wieder neu erkämpft werden. Daher auch ihre große Melancholie, die im Gesang einen besonders intensiven Ausdruck erfährt: "Es stellt sich heraus, dass alle russischen Lieder von Abschied handeln. Es geht darin um Liebe, Freundschaft, Familien, aber letztendlich läuft alles auf den Abschied hinaus."

Quelle: Rezensionsforum für Literatur und für Kulturwissenschaft

Roman ohne Wirklichkeit

AP) Die französische Schauspielerin Marie Trintignant in Cannes, 1979 (Bild: AP)

Albert Ostermaier zeichnet den Mordfall Trintignant nach und scheitert

Von Christoph Bartmann

Man kann verstehen, dass Albert Ostermaier vom Mordfall Trintignant fasziniert ist. Ein dunkler Stoff aus einer mondänen Welt, mit zwei Stars des französischen Kulturbetriebs in den Hauptrollen und mit fast allem, was extreme Gefühlslagen zwischen Liebe und Wahn, Sucht und Gewalt an fatalen Folgen auszulösen vermögen.

Im Juli 2003 hat der Rocksänger Bertrand Cantat seine Geliebte, die Schauspielerin Marie Trintignant, im Streit erschlagen. Das Drama trug sich in Vilnius zu, wo sich Trintignant zu Dreharbeiten – sie verkörperte in einem französischen Film die Schriftstellerin Colette – aufhielt.

Über die Umstände der Gewalttat, ihre Vor- und Nachgeschichte, haben die Medien, auch die deutschen, ausführlich berichtet. Marie Trintignant wurde auf dem Pariser Friedhof “Père Lachaise” im Beisein der französischen Kulturintelligenz beigesetzt, und Cantat saß eine Haftstrafe wegen Totschlags ab, aus der er 2007 wegen guter Führung entlassen wurde. Kriminalistisch betrachtet, ist der Fall abgeschlossen, aber seine dunkle Faszination dauert an – wovon “Zephyr”, der erste Roman des Lyrikers Ostermaier, ein Zeugnis ablegt.

Ostermaier hätte einen Roman über den Mord (oder Totschlag) von Vilnius schreiben können, der sich eng an die Aktenlage anlehnt oder, von ihr ausgehend, die eine oder andere Mutmaßung anstellt. Statt dessen hat er sich entschieden, die tragische Beziehung von Cantat und Trintignant in einer anderen Paarkonstellation zu spiegeln und so seiner literarischen Freiheit einen anderen, größeren Spielraum zu geben.

In einem Haus an der sommerlichen Cote d’Azur hat sich Gilles eingemietet, ein junger Filmautor, der an einem Skript über die Tat von Vilnius schreibt und selbst, wie es scheint, von ähnlichen Furien gehetzt wird wie Cantat, der Sänger von “Noir Désir” oder des schwarzen Begehrens, wie die Band auf Deutsch hieß. Er trinkt zuviel, er taumelt von einer Schaffenskrise in die nächste, und er ist maßlos eifersüchtig in seiner Liebe zu Cathy, der jungen Frau, die zu Beginn des Romans schon tot sein könnte. “Du riechst nach Chlor, hatte sie gesagt”, heißt es da, aber wann Cathy das gesagt hat, und warum Gilles nach Chlor roch, wenn er das tat, und was seither geschehen ist, erfahren wir nicht zuverlässig.

Warum, fragt man sich, hat Ostermaier diese zweite Ebene eingezogen, auf der sich fiktionale Personen undeutlich in Konstellationen begegnen, die denen des notorischen Kriminalfalles von Vilnius auf diffuse Weise ähneln? Auf diese Weise, könnte man vermuten, entgeht er der Realismusfalle – denn wer will schon einen Fall literarisch nachempfinden, der journalistisch weitestgehend auserzählt ist? Statt der belegbaren Fakten scheint es Ostermaier um die Erzeugung einer starken Atmosphäre zu gehen, um die Erzeugung von “schwarzem Begehren” oder “Noir Désir”.

Die Leidenschaft ist darin das eine: Der “Amour fou”, der der Tat von Vilnius und ebenso den unklaren Geschehnissen in der Villa am Mittelmeer offenbar zugrunde lag, und die Schwärze ist das andere: Es ist dunkel, und man kann nichts erkennen. Ostermaiers “Zephyr” ist kein guter Roman für Leser, die etwas genau wissen wollen, aber vielleicht einer für Leser, die Andeutungen, Ungewissheiten und erlesen Metaphorisches lieben. Das hört sich dann manchmal so an: “Costello hätte mit ihr geschlafen, als sie beide hier allein gewesen waren. Gilles konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass Costello sie berührt hätte, dass sich Costellos Hände in das Gedächtnis ihres Körpers eingeschrieben hätten und ihr Körper nun, ihn, Gilles, vergessen hätte.” Hat Ostermaier zuviel de Sade gelesen, zuviel Foucault, oder hat er auch zuviel vom Lieblingsautor von Trintignant und Cantat, von Louis-Ferdinand Céline ab bekommen? Jedenfalls hat er mit Eifer den dunkel-schwelgerischen Ton aus Gewalt und Begehren reproduziert, den man von den genannten Autoren kennt.

Zephyr heißt der Roman, und das ist seit Homer das Wort für den West-, den Abendwind, und für den Gott des Windes, der, wie Theophrast erzählt, Frauen und Kinder hat und aus Eifersucht zum Mörder eines Liebhabers wird. Zephyr heißt auch ein Pariser Restaurant, das für seine Austern berühmt ist, und irgendwie ist der Roman als Ganzer atmosphärisch und metaphorisch zwischen der Welt Pariser Restaurants und jener des klassischen Altertums angesiedelt. Als Lyriker ist Ostermaier beschlagen in der Kunst der atmosphärischen Verdichtung; mit wenigen Worten ist er in der Lage, ein suggestives Ungefähres zu umreißen: “Die Umrandung des Pools. Seine Küsten. Jede Küste schuldet dem Chlor einen Toten.” Der Chlor fungiert im Roman als eine Art Köder für die Neugier des Lesers. Wir sollen daran erinnert werden, dass im Pool oder um ihn herum ein Geheimnis lauert: Hat Gilles, der verwirrte Drehbuchschreiber, sich dort seines Nebenbuhlers entledigt. Ist er, in einer Art Imitation der Bluttat von Vilnius, zum Mörder seiner Frau geworden?

Manchmal läuft ein Kommissar durchs Bild, aber er trägt außer einigen Simenon-haften Sätzen zur Erhellung des Geschehens nicht bei. Peu à peu wird uns, während die Sinnestrübung des Hauptdarstellers voranschreitet, von den Vorkommnissen in jener Julinacht in Vilnius erzählt, und das ist, auch wenn wir es schon aus dem “Spiegel” und anderen Medien kennen, noch immer interessanter als das ganze aufwändig verschleierte Handlungsspiel, das Ostermaier am südfranzösischen Pool inszeniert hat. Was nicht im “Spiegel” stand, hat Ostermaier erfunden, und es klingt etwa so. “Andrius bewunderte Bertrand, er hatte das gleiche Charisma wie Marie. Beide waren sie schwarze Engel, Fallwind in den Augen und unter den Achseln, beide zogen sie alles in die Tiefe und wollten doch nur fliegen, leicht die Flügel schlagen und aufsteigen zu den Wolken, im Azur gleiten, der Sonne zustreben” und so weiter. Das kann man als Lyrik goutieren, für die Wirklichkeit des Falles aber, der Ostermaier so fasziniert, und für die Wirklichkeit des Wahns dahinter, hat dieser Roman jedoch leider weder Augen noch Worte.

Albert Ostermaier: “Zephyr”. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.