Gedanken zur Zeit: "Lettland ist nach Irland umgezogen"

Wer aufgewühlt das Museum der Okkupation in Lettlands Hauptstadt Riga verlässt, liest diese letzte Tafel: "Während der sowjetischen und deutschen Besatzung verlor Lettland 550 000 Menschen, ein Drittel seiner Bevölkerung, durch Mord, Krieg, Deportation oder Flucht."

Die Deutschen kommen mittlerweile als Touristen, ohne Arg. Eine Viertelmillion Russen lebt ohne lettischen Pass im Land. Nach Georgien schleicht die Furcht in die Glieder: Was ist, wenn die russische Armee ins Land einfällt – angeblich auf Bitten ihrer Landsleute?

Fahren wir nach Lettland, spazieren wir auf dem breiten Strand von Jurmala, einem der schönsten der Ostseeküste. Er ist 33 Kilometer lang und bietet alles, was Urlauber schätzen: feiner Sand, 4000 bunte Holzhäuser, hübsche Villen.

Das Wasser ist sauber, weil nach dem Ende der sowjetischen Besatzung die Zellulose-Fabrik geschlossen und eine Kläranlage gebaut wurde. Nur so richtig warm wird das Wasser der Ostsee wohl erst, wenn durch den Klimawandel Palmen statt Kiefern wachsen sollten.

Im Kiefernwald abseits des Strands stehen die neuen Villen aus Stein, die Häuser der Millionäre, die sich nach der Wende ein großes Vermögen aufbauten. Der Chef einer Bank hat sich ein kleines Dorf gebaut, nur für sich und seine Gäste mit Tennishalle und Schwimmbad. Da er kein Grundstück fand, das groß genug war für seine Ansprüche, kaufte er der Stadt für eine halbe Million eine komplette Straße ab.

Schnäppchen gibt es nicht mehr, die Grundstückspreise ähneln langsam denen am Starnberger See nahe München. Alles, wirklich alles wird teurer. Es ist paradox, aber die Bürger von Riga nehmen morgens den Billigflieger nach Berlin, um am Kudamm preiswert einzukaufen. Und die Textilfabrik vergibt wegen der hohen Löhne, die nirgends in der EU so stark steigen, Aufträge nach Weißrussland.

Die 2,3 Millionen Letten, die nicht zu den 2000 Millionären zählen, sorgen sich um ihre Zukunft – wie Klujeva, deren Augen feucht werden, wenn sie von der rapide gestiegenen Grundsteuer erzählt, die viele Alteingesessene im mondänen Badeort nicht mehr bezahlen können; die von der Geldentwertung spricht, fünfmal so hoch wie in Deutschland; und von Krediten, die viele nicht mehr bedienen können.

Diese Kredite verhalfen vielen, nach der Wende Häuser oder Wohnungen zu erwerben, auch dank der Gutscheine, mit denen Bürger das herrenlose Eigentum erwerben konnten. Ansprüche von Alteigentümern, wie in Deutschlands Osten, gab es kaum.

Die goldenen Zeiten Lettlands begannen – und enden zur Zeit jäh. Das Drama, das zwischen Dresden und Rostock schon lange spielt, wiederholt sich zwischen Liepaja, wo Oliver Kahns Vater geboren wurde, und Daugavpils. Vorzugsweise junge Menschen wandern gen Westen, lassen Deutschland links liegen und streben auf die britischen Inseln.

"Lettland ist nach Irland umgezogen", sagt Klujeva. 80 000 wandern Jahr für Jahr aus. Das ist viel in einem Land, das nicht einmal so viele Einwohner wie Berlin hat.

Eher unwillkommen sind die Briten, die Woche für Woche mit Billigfliegern kommen, ihren Abschied vom Junggesellen-Dasein mit reichlich Alkohol feiern und nicht selten zur Randale neigen. "Riga wird zur Hauptstadt des Sextourismus und der englischen Rabauken", fürchtet Klujeva um die Zukunft der lettischen Hauptstadt, deren lebendige Altstadt zum Weltkultur-Erbe zählt.

Wer an einem warmen Spätsommer-Abend durch Riga flaniert, wird nicht früh ins Bett kommen. Die Stadt singt regelrecht – und dies hat nicht nur mit der Vorliebe der Letten zu tun, unentwegt ein Lied auf den Lippen, zumindest im Kopf zu summen.

Riga ist eine wunderschöne Stadt mit 800 Jugendstil-Villen, Backsteingotik und romanischen Kirchen, protzigen Bürgerhäusern, einem 700 Jahre alten Schloss und mittendrin dem prachtvollen Schwarzhäupterhaus, in dem sich einst unverheiratete Kaufleute zu einer Bruderschaft versammelten.

Eine Inschrift an der Fassade in deutscher Sprache verweist auf die lange deutsche Geschichte, auf Albert von Bremen, der Riga gründete, Deutschritter-Orden und Hanse – und Richard Wagner, der als Dirigent in Riga wirkte und seine Oper "Rienzi" schrieb.

Die junge Republik Lettland, vor 90 Jahren gegründet, ist ein westliches Land, was die Gegenwart ebenso bezeugt wie ihre Geschichte, in der aus dem Westen hoher kultureller Gewinn ebenso kam wie Unterwerfung und schlimmstes Leid.

Paul-Josef Raue

Überreste von hunderten Wehrmachtssoldaten in Lettland entdeckt

Hobby-Archäologen haben in der lettischen Hauptstadt Riga ein Massengrab deutscher Weltkriegssoldaten ausgehoben. Unter einem Sportplatz seien die sterblichen Überreste von 324 Soldaten gefunden worden, sagte der Freizeit-Historiker Talis Esmits.

wehrmacht

Hier Funde in Bonn: Brandbomben, ein Wehrmachtshelm und ein amerikanischer Armeehelm mit Gasmaske aus dem 2. Weltkrieg.

Offenbar handele es sich dabei vor allem um  Angehörige der Wehrmacht sowie einige Soldaten aus osteuropäischen  Ländern, die zwischen 1944 bis 1949 in drei Militärkrankenhäusern  gestorben seien. Die Gebeine sollen den Angaben zufolge auf einem  deutschen Soldatenfriedhof außerhalb Rigas bestattet werden.

Dass es in Riga ein derartiges Massengrab gebe, sei bereits seit  den 90er Jahren bekannt, sagte Esmits. Damals seien Archive des  russischen Geheimdienstes KGB an das lettische Innenministerium  übergeben worden. Um den genauen Standort ausfindig zu machen, sei  jedoch zusätzliche „Detektivarbeit“ erforderlich gewesen. Die  Hobby-Historiker befragten vor allem Zeitzeugen. Einige ältere  Damen hätten sich daran erinnert, dass in dem Gebiet am Ende des  Weltkriegs Kerzen angezündet worden seien. Bislang konnten die  Leichen nicht identifiziert werden. Die Namen seien jedoch in  Archiven vermerkt und sollten auf eine Gedenktafel übertragen  werden, sagte Esmits.

Massengrab deutscher Soldaten entdeckt

Riga – Die lettische Suchgruppe „Legenda“ hat im Rigaer Landkreis Zepniekkalns die Überreste von rund 600 Soldaten entdeckt, die sich direkt unter einem Schulstadion befinden. Das sagte der Pressesprecher der Suchorganisation am Dienstag RIA Novosti.

Ihm zufolge wurden bislang etwa 168 Leichen exhumiert.

Er betonte, dass es sich dabei um deutsche Kriegsgefangenen handeln würde, die in einem Lazarett in einem Arbeitslager in den Jahren von 1944 bis 1949 gestorben seien. Der Suchtrupp sei im Besitz einer vollständigen Namensliste der Verstorbenen, weshalb alle Leichen identifiziert werden könnten.

Er teilte mit, dass unter den Soldaten auch Letten, Russen, Ukrainer, Franzosen und Belgier gewesen seien.

Die Grabungen werden mit Genehmigung der Rigaer Stadtverwaltung durchgeführt. Alle Überreste sollen zur Expertise nach Deutschland geschickt und danach umgebettet werden.

Lettland führt Volksentscheid über das Recht auf Parlamentsauflösung durch

Riga – Lettland führt am Samstag ein Referendum über Korrekturen an der Landesverfassung durch, die dem Volk das Recht geben sollen, das Parlament durch einen Volksentscheid aufzulösen.

Die insgesamt 951 Wahllokale in Lettland und 47 im Ausland sind heute ab 7.00 Uhr Ortszeit bis 22.00 Uhr geöffnet.

Wie soziologische Umfragen ergeben haben, wird eine hohe Aktivität der Wähler erwartet. Die Durchführung des Referendums hat den Staat 4 Millionen US-Dollar gekostet.

Anfang März 2008 hatten 217 000 Letten (das sind 15 Prozent aller Wahlberechtigten) ihre Unterschriften unter den Vorschlag an die Regierung gesetzt, dem Volk das Verfassungsrecht zu geben, das Parlament durch einen entsprechenden Volksentscheid aufzulösen.

Die Korrekturen zum Grundgesetz waren dem Parlament vorgelegt worden, das es jedoch ablehnte, diese zu ratifizieren. Daraufhin wurde ein Referendum dazu organisiert.

Auf unebenen baltischen Wegen

Die Balten sind in der europäischen Wirklichkeit angekommen. Deutsche Spurensuche in Riga

© Weltexpress

Lettland

RIGA (Weltexpress) – Goethe sollte im Baltikum eigentlich auf Deutsch werben. Aber angesichts der zwischen Deutschen und Russen, Schweden und Polen geschundenen Geschichte der Balten versucht es das nach dem deutschen Dichter benannte Institut auf Lettisch: "O!Vacija" nannte es den deutschen Kulturmonat, wofür es soeben mit dem lettischen Cicero-Preis "zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen" ausgezeichnet wurde. Das Motto "O!Vacija" ist bewusst doppeldeutig. Es kann und soll als "O! Deutschland", aber auch als "Ovation" von den Letten verstanden werden, sagt der Institutsleiter Rudolf de Baey. Manche der Letten, vor allem Ältere, hören das O! aber wie ein Stöhnen.

Ihnen geht die dreifache Okkupation ihrer Heimat – zuerst Stalin (1939-41), danach Hitler und 1945 bis 1991 abermals die Sowjets – noch immer in die Angstträume nach. Sie haben unter beiden gelitten. Im 2.Weltkrieg und in den Lagern Hitlers und Stalins verlor das kleine lettische Volk ein Drittel seiner Menschen: 550 000. Deshalb können heute nur ihre Politiker "mit dem Verstand", nicht aber viele "kleine Leute" aus dem Bauch heraus die neue Pipeline-Achse Moskau-Berlin verstehen.

Anders als nach den friedlichen Revolutionen in Deutschland und Mitteleuropa im Herbst 1989 zeigte Moskau hier noch einmal sein sowjetisch-imperialistisches Gesicht. Seine Antwort auf das "Erwachen" in den baltischen Sowjetrepubliken war der Sturm auf das Fernsehzentrum der litauischen Hauptstadt im Januar 1991 mit zehn Toten und 14 Tage später der Putsch gegen das lettische Innenministerium in Riga mit fünf Toten. "Ihr Deutschen hattet bei der Wende 1989/90 viel mehr Glück", sagt eine junge Lettin. Erst das Ende des Moskauer Putsches gegen Gorbatschow im August 1991 brachte ihnen im September die Unabhängigkeit.

Noch mehr Leid hatten die Balten schon vor dem Krieg durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die Massenverhaftungen und Deportationen in den Gulag Stalins erfahren. Danach kam in den 50er Jahren die Industrialisierung der einstigen Agrarländer und mit ihr kamen noch mehr Russen. Sie sind heute eine zahlenmäßig starke Minderheit und leben an den Balten vorbei. Eine Mentalität des gegenseitigen Misstrauens ist noch längst nicht überwunden.

Jeva Sproge, bei Andreas M. Klein, dem Leiter der Konrad- Adenauer-Stiftung in den baltischen Ländern, Dolmetscherin und Assistentin, kann diese aus Angst entstandene Mentalität bezeugen. Ihre Mutter habe stets nachts ein Notbündel mit Seife und Handtuch bereit gehabt, weil sie fürchtete, irgendwann einmal ebenfalls "abgeholt" zu werden. Wohl auch deshalb ließ die Familie ihren deutschen Namen Krause als Sproge nationalisieren.
Was nur ein Beispiel unter weit tragischeren Biografien der Balten-Deutschen ist. Die meisten ihrer Guts- und Landhäuser sind verfallen. 65 000 Deutschbalten mussten 1939 im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes das Land verlassen. Heute sprechen fast nur noch die Urkunden und Geschichtstafeln, die Erinnerungen an Herder, der als Lehrer in Riga den Letten mit seiner Sammlung der Stimmen der Völker in Liedern Selbstbewusstsein gab, oder eine reiche Literatur deutsch. Die lingua franca der jungen Generation ist englisch. Russisch-Kyrillisch ist im Stadtbild kaum noch zu sehen. Aber es bleibt unüberhörbar.

Heute lebt nur noch eine kleine deutsche Gemeinde in Riga, mit sonntäglich evangelisch-lutherischem Gottesdienst. Aber seit 1992 sind die Baltendeutschen wie alle anderen Deutschen nicht nur als Touristen unübersehbar. Vom 4. bis 6. Juli feiert das Deutschbaltisch-Lettische Zentrum zum 17. Mal seine Domus-Rigensis-Tage in Riga, vom Westen aus mitorganisiert durch Werner von Sengbusch aus Königstein im Taunus. Unübersehbar sind erst recht deutsche wirtschaftliche Aktivitäten, so bei der Rettung des mittelalterlichen Konventhofes als moderner Hotel-Komplex "Konventa Seta".

Ebenfalls keineswegs nostalgisch, sondern auf Gegenwart und Zukunft der Zusammenarbeit von Professoren und Studenten bezogen ist das Baltisch-Deutsche Hochschulkontor mit der jungen lettischen Geschäftsführerin Ieva Pranka am Brivibas Bulv.32.

Wer heute durch das malerische Riga geht, muss immer wieder auf unebene Wege und Treppen achten, als hätte sie Hundertwasser entworfen. Sie scheinen jedoch eher ein Abbild der unebenen Geschichte eines kleinen Volkes zwischen den Großen zu sein. Wer diese Geschichte kennenlernen und damit die Gegenwart verstehen will, der sollte in Riga nicht nur die berühmten Sehenswürdigkeiten und liebevoll wiederhergestellten Altertümer wie Dom, Petrikirche, Schwarzhäupterhaus, Schloss, Gilde oder Rathaus aufsuchen. Man sollte vor allem in zwei übersichtliche, moderne Museen gehen, die alles andere als museal sind. In das kleinere Museum der Barrikaden von 1991 in der Kramu iela 3, der Krämerstraße der Altstadt, das in seiner Anschaulichkeit unserem Haus der Geschichte in Bonn verwandt ist.
Und in den neuen Bunker des Lettischen Okkupationsmuseums am Rathausplatz. Es veranschaulicht die lettische Zerrissenheit zwischen Hitler und Stalin. Verschweigt nicht die Kooperation vieler Letten mit den Nazis, die zunächst als Befreier von Stalin empfunden wurden, aber schnell ihr wahres Gesicht zeigten. Vor allem bei der Verfolgung und Ermordung der Juden, von deren einstiger Bedeutung nur noch das Jugendstilviertel und die Ruinenenfundamente der Synagoge am Rande des heutigen russischen Viertels zeugen. Dort sind nun die Namen der (wenigen) Letten aufgeschrieben, die Juden retteten. An beiden Orten herrscht fröhliches städtisches Leben, als sei nichts gewesen.

Deutsche können diese Orte mit sehr gemischten Gefühlen erleben. Zwischen Verantwortung und Scham wegen der Vergangenheit, wie sie die wiederhergestellte alte deutsche Inschrift am Schwarzhäupterhaus kommentiert: "Die wider Gesetz und Gewissen handeln Gottes Segen in Fluch verwandeln." Aber auch glücklich über die heutige europäische Wirklichkeit, in der Litauer, Letten und Esten weder Hitler noch Stalin fürchten müssen und wo Deutsche im Baltikum wieder willkommen sind. Besonders wäre es Angela Merkel. Die sollte nach einer hier verbreiteten Meinung "nicht nur mit Putin oder Medwedew russisch reden".

Lettlands Nichtbürger dürfen ab sofort visafrei nach Russland

Riga – Lettische Nichtbürger dürfen ab dem heutigen Freitag ohne Visa nach Russland einreisen.

Dies gab die russische Botschaft in Lettland bekannt.

Dem Pressesprecher der Botschaft, Sergej Djatschenko, zufolge sind alle entsprechenden Formalitäten erledigt.

Am 17. Juni hatte der russische Präsident Dmitri Medwedew einen Erlass über die visafreie Einreise von in Lettland und Estland ansässigen ehemaligen Bürgern der Sowjetunion, die keine Nationalpässe besitzen, unterzeichnet.

Lettische Nichtbürger dürfen bei Vorlage eines gültigen Nichtbürger-Passes visafrei nach Russland einreisen.

Die estnischen Nichtbürger hatten das Recht für die visafreie Einreise nach Russland bereits vor einer Woche erhalten.

In Estland mit einer Bevölkerungszahl von etwas mehr als 1,5 Millionen leben gegenwärtig 115 000 Nichtbürger. In Lettland mit einer Bevölkerungszahl von 2,3 Millionen ist die Zahl der Nichtbürger deutlich höher – knapp 400 000.

Geboren in Riga, aber stolz, Russe zu sein

riga_r20080616204312 In der Balten-Republik sind 40 Prozent Russen. Besonders die Jungen bewundern Moskaus neue Stärke.

RIGA. „Mama, willst du einen Witz hören?“, fragt Anna und sprudelt heraus, was sie im Schulhof gehört hat: „Wir haben doch den Song Contest gewonnen, und die Fußballer von Zenit St. Petersburg den Uefa-Pokal. Wir sollten jetzt rasch einen Dritten Weltkrieg beginnen, bevor unsere Glückssträhne endet.“ Mutter Jelena verdreht die Augen.

Was eine 15-Jährige lustig findet, ist Jelena peinlich. Doch sie weiß, dass unter den Klassenkameraden ihrer Tochter der Chauvinismus blüht. Anna geht in eine russische Eliteschule im lettischen Riga und lebt in dem Spannungsfeld zwischen Letten, die „die Russen“ immer noch als Okkupanten sehen und Russen, die das Land, in dem sie leben, weder mögen noch ernst nehmen.

Fremd in der eigenen Heimat

Mehr als ein Drittel von Lettlands Bevölkerung hat Russisch als Muttersprache. 350.000 Menschen sind „Nicht-Bürger“ mit einem Fremdenpass, weil sie die für den Erwerb der lettischen Staatsbürgerschaft nötigen Sprachkenntnisse nicht erbringen oder auch nur keine Lust haben, den Einbürgerungsantrag zu stellen. Das ist der Ballast eines halben Jahrhunderts sowjetischer Besetzung, in dem die Ansiedlung russischer Arbeitskraft massiv gefördert wurde.

Jetzt wächst eine neue Generation heran, die schon im unabhängigen Lettland geboren ist – und immer noch fremd in ihrer Heimat. Viele von ihnen sprechen mühelos Lettisch, viele haben inzwischen auch den lettischen Pass, doch sie fühlen sich als Russen und ihre Loyalität gilt Moskau, nicht Riga.

Russe zu sein ist schließlich wieder etwas, worauf man stolz sein kann. Die Fußballer von Zenit St. Petersburg haben Bayern München zerlegt und den Uefa-Pokal gewonnen, die russischen Eishockeystars die Weltmeisterschaft, der Sänger Dima Bilan den Song Contest der Eurovision. „Da konnte ich durch meinen Wohnblock gehen und am Jubel hören, wo die Russen wohnen“, sagt Jelena. Und die Jungen zogen durch Riga und feierten.

„Hier sind die Russen marginalisiert. Dann liegen ihre Sympathien eben woanders“, sagt Nil Uschakow, der 31-jährige Parteichef des „Harmonie-Zentrums“, das nach seiner Einschätzung „80 Prozent Russischsprachige“ unter seinen Wählern hat. Eine „ohne Respekt“ durchgeführte Schulreform, die russische Schüler zwingen wollte, mehr Unterricht auf Lettisch zu absolvieren, nennt er als Schlüsselerlebnis. „Die jungen Russen werden russischer“, sagt Anna Muhka, Verlagsmanagerin der Zeitung „Diena“. Die Siegesfeiern des 9. Mai waren früher ein Fest der Veteranen. Jetzt kamen auch junge Familien zum russischen Denkmal.

„Freiwilliger Beitritt“ zur Sowjetunion

Sandra Kalniete, Lettlands frühere Außenministerin, die als Kind nach Sibirien verschleppt wurde, war schockiert, als sie in einem russischen Gymnasium mit den Schülern über Geschichte diskutierte: „Sie akzeptierten nur die russische Sichtweise, dass Lettland freiwillig der Sowjetunion beitrat.“ Putin ist ihr Idol, von den lettischen Politikern kennen sie kaum den Namen.

„Russland wird reich und stabil, und das mögen die Leute“, sagt Uschakow. Im Nobel-Badeort Jurmala kommen die Superreichen aus Moskau im Bentley und Armani-Anzug an. Das imponiert. In Lettland galoppiert die Inflation, das merken die Pensionisten und jungen Familien besonders.

„In Lettland sehen sie die Missstände. Dass in Russland alles noch viel schlimmer ist, merken sie nicht“, meint Uschakow. Ihre Informationen beziehen die russischsprachigen Einwohner fast ausschließlich von russischen Medien. „Kein lokaler TV-Kanal kann mit jenen aus Moskau konkurrieren. Und dann ziehen sich die Leute mit den Soaps auch die Kreml-Propaganda rein.“

„18 Jahre Unabhängigkeit, und die Integration klappt einfach nicht“, klagt Kalniete. Man lebe „nebeneinander, statt zusammenzuwachsen“. Immerhin: nicht gegeneinander. Es gibt russische Siedlungen, russische Medien, russische Internetforen. Die Stadt ist „friedlich aufgeteilt“, sagt Muhka. In die Klubs, in die junge Russen gehen, gehen die Letten nicht, und umgekehrt. „Russen mögen Techno, Letten mögen Techno. Aber nicht am selben Ort.“ Andererseits liegt die Zahl der gemischten Ehen bei 20 Prozent, so wie in den sowjetischen Zeiten, als es offiziell keine Nationalitätenfrage gab.

„Russen können nicht assimiliert werden“

„Was uns trennt, sind der Blick auf die Geschichte, Russlands Einfluss und die Fehler, die wir in der Nationalitätenpolitik der 90er-Jahre gemacht haben“, sagt Ex-Außenminister Artis Pabriks. Mit antirussischen Parolen ließen sich Wahlen gewinnen, doch man stieß auch die Russen ab, die dem jungen Staat anfangs positiv gegenübergestanden waren. Und man gab Moskau den Vorwand, sich als Schutzmacht der Minderheit aufzuspielen, um den eigenen Einfluss in der Region wieder zu stärken.

Uschakow möchte, dass der Staat „freundlicher wird“: „Wem schadet es, wenn ein russischer Pensionist seinen Antrag auf Russisch stellt?“ Heute muss aller Schriftverkehr in der einzigen offiziellen Landessprache Lettisch abgewickelt werden – auch wenn der bearbeitende Beamte ebenfalls Russe ist. Und er stellt klar: „60 Prozent können nicht 40 Prozent assimilieren.“

 

FAKTEN

Im Juni 1940 marschierten russische Truppen in Lettland ein. 100.000 Letten wurden nach Sibirien deportiert.

Mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 geriet auch Lettland unter deutsche Kontrolle. Nicht wenige Letten kollaborierten mit Wehrmacht und SS. Fast die gesamte jüdische Bevölkerung Lettlands wurde ermordet.

1944 vertrieb die Rote Armee die Deutschen. Das Land wurde erneut Teil der Sowjetunion. Moskau siedelte in Lettland zahlreiche Russen an.

Erst 1990/1991 wurde Lettland wieder unabhängig; seit 2004 ist es Mitglied der EU.

Lettlands Gefängnisse auf dem Prüfstand

Europarat übt scharfe Kritik

landscape Es waren klare Worte, die das Anti-Folter-Komitee des Europarats für die Situation in lettischen Gefängnissen und Polizeistationen fand: Die Zahl der Fälle von Misshandlungen sei immer noch besorgniserregend, die Gefangen würden mit Elektroschocks und Stockschlägen gequält. Nun gibt es Anzeichen, dass die Behörden das Problem ernst nehmen und nach Lösungen suchen. Matthias Kolb berichtet.

Ein kleines Zimmer in den Büroräumen des Lettischen Menschenrechtszentrums in Riga: Anhelita Kamenska sammelt in dicken Ordnern Berichte und Zeitungsartikel über die Arbeit der lettischen Polizei. Seit fast zehn Jahren beschäftigt sich die Juristin mit diesem Thema und zuletzt hat sie eine besorgniserregende Tendenz festgestellt:

"Im letzten Jahr sind erschreckend viele Menschen gestorben, weil sich Polizisten falsch verhalten haben. In Sigulda starb ein Geschäftsmann an den Verletzungen, die ihm in Untersuchungshaft zugefügt wurden. Im Winter sammeln Polizisten Obdachlose im Stadtzentrum ein und setzen sie bei Minustemperaturen in den Wäldern aus – im Januar ist deswegen ein Mann erfroren, das war in Tukums, außerhalb von Riga."

Auch der Bericht des Anti-Folter-Komitees des Europarats dokumentiert viele Fälle. Die Experten besuchten 2002 und 2004 mehrere Polizeistationen und Gefängnisse. Die Delegation beklagte damals nicht nur "dreckige und unhygienische Zellen", sondern berichtete auch, dass Verdächtige mit Elektroschocks gequält worden seien. Wiederholt seien ihnen Plastiktüten über den Kopf gestülpt worden, um sie am Atmen zu hindern – dies sei Folter. Die Fälle seien durch medizinische Atteste belegt worden. Der Regierung warf das Komitee vor, falsche Zahlen geliefert und Empfehlungen missachtet zu haben. Eine Frage nicht nur des fehlenden politischen Willens, so Anhelita Kamenska:

"Nach der Unabhängigkeit waren sich die Behörden nicht bewusst, was es bedeutet, all diesen internationalen Konventionen und Organisationen beizutreten. Lettland ratifizierte 51 Konventionen, ohne zu überlegen, welche wichtig sind und welche nicht. Die Folgen sind klar: Die lettischen Berichte waren immer zu spät, manchmal fünf oder gar neun Jahre."

Ein weiterer Faktor: In Lettland gab es seit 1991 mehr als ein Dutzend Regierungen, die Minister für Inneres und Justiz wechselten ständig. Anhelita Kamenska hofft, dass die Regierung künftig über Alternativen zu strengen Gefängnisstrafen nachdenkt. Denn in keinem anderen der 27 EU-Staaten sitzen relativ gesehen mehr Bürger in Haft als in Lettland: Auf 100.000 Einwohner kommen 287 Häftlinge, im ähnlich großen Slowenien sind es nur 66. Kamenska führt dies auf die Erfahrungen der Sowjetzeit zurück – viele der noch heute aktiven Polizisten und Richter wurden vor 1991 ausgebildet. Diese hätten wenig Interesse, Beschwerden aufzuklären. Hier finde jedoch inzwischen ein Umdenken statt, berichtet Ilze Rukere. Sie arbeitet seit Januar 2008 als Beraterin des lettischen Polizeichefs und präsentiert, wie Beschwerden im Internet eingereicht werden können:

"Hier kann jeder Bürger alles eintragen: Wo der Vorfall genau stattgefunden hat, was passiert ist und welche Fehler die Polizei angeblich gemacht hat. Hier steht, welche Fakten er angeben muss, wer seinen Antrag prüft und wie er über das Ergebnis informiert wird. Ganz unten stehen alle Kontaktinformationen."

Ilze Rukere, die früher selbst als Menschenrechtsaktivistin tätig war, soll auch die Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen verbessern und Kontakt zu den Bürgern suchen. Eine aktuelle Umfrage habe ergeben, dass das Vertrauen der Letten in die Polizei gar nicht so niedrig sei – obwohl im Internet Videos über korrupte Beamte kursieren. Gatis Svika, sonst zuständig für die Kooperation mit der EU, reiste 2007 nach Genf, um vor der Uno die lettische Sicht zu präsentieren:

"Natürlich wissen wir, dass hier nicht alles perfekt ist. Meiner Meinung nach kann man diese Probleme in zwei Kategorien teilen: Das eine ist unsere Ausrüstung, die Ausstattung der Zellen etc. – alles, was mit Geld zu tun hat. Das andere ist das Personal. Hier können wir ohne große Investitionen einiges erreichen: Wir müssen unsere Beamten besser ausbilden und ihnen klar machen, was die Gesellschaft von uns erwartet."

Trotz der positiven Anzeichen und den Bemühungen der Behörden erwartet die Menschenrechtlerin Anhelita Kamenska, dass sich die Situation nur langsam verbessern wird – das alte Denken sitze noch sehr tief. Für sie steht eines fest: Es sagt viel über eine Gesellschaft aus, wie sie ihre Häftlinge behandelt:

"Die Frage der menschlichen Würde ist etwas, das Behörden und auch die meisten Menschen in Lettland noch nicht verinnerlicht haben. Als Besucher im Gefängnis merken Sie das ständig: Wenn Ihnen ein Häftling auf dem Gang entgegenkommt, wird er gezwungen, sich mit dem Kopf an die Wand zu stellen und Ihnen den Rücken zuzuwenden. Das ist erniedrigend, aber es passiert immer noch – und wird mit Sicherheitsgründen gerechtfertigt."

Bild: Dreckige und unhygienische Zellen sind in Lettland keine Ausnahme. (AP)

Lettische Wirtschaftsdelegation in Niederösterreich

Technologie und Energie im Mittelpunkt des Interesses

Nach dem Besuch des vietnamesischen Staatspräsidenten Nguyen Minh Triet wurde am 6. Juni, eine Wirtschaftsdelegation aus Lettland von Niederösterreichs Landeshauptmannstellvertreter Ernest Gabmann empfangen. Großes Interesse zeigt Lettland an den Themen Technologie und Energieversorgung – zwei Schwerpunktthemen der lettischen Wirtschaft. Die Delegation besichtigte auch das Wirtschaftszentrum Niederösterreich in St. Pölten. Weiters stand ein Besuch am Technopol Krems der ecoplus – im BTZ Biotechnologiezentrum – mit Führungen durch die High-Tech Labors am Programm, sowie die Besichtigung des Biomasse- Fernheizkraftwerks Mödling.

"Ein Schwerpunkt unserer Wirtschaftspolitik ist die Internationalisierung. Wir unterstützen Firmen aus Niederösterreich bei ihren Schritten in den neuen Märkten aktiv. Es ist uns wichtig, Kontakte herzustellen und neue Geschäftsmöglichkeiten zu verifizieren", so Gabmann, für den die Gespräche mit der lettischen Delegation äußerst positiv waren.

Hunderte CSD-Teilnehmer in Lettland angegriffen

Der CSD in der lettischen Haupstadt Riga ist am 31.05.2008 Samstag von über 400 Gegnern angegriffen worden. Die Sicherheitskräfte beschützte die etwa 300 Schwule und Lesben. Die Gegner wollten die Parade mit schwulenfeindlichen Sprechchören und Bannern stören.

Fünf von ihnen wurden zeitweise festgenommen. Der lettische Präsident hatte sich kurz vor der Parade für Tolerant gegenüber Minderheiten ausgesprochen.