Wer aufgewühlt das Museum der Okkupation in Lettlands Hauptstadt Riga verlässt, liest diese letzte Tafel: "Während der sowjetischen und deutschen Besatzung verlor Lettland 550 000 Menschen, ein Drittel seiner Bevölkerung, durch Mord, Krieg, Deportation oder Flucht."
Die Deutschen kommen mittlerweile als Touristen, ohne Arg. Eine Viertelmillion Russen lebt ohne lettischen Pass im Land. Nach Georgien schleicht die Furcht in die Glieder: Was ist, wenn die russische Armee ins Land einfällt – angeblich auf Bitten ihrer Landsleute?
Fahren wir nach Lettland, spazieren wir auf dem breiten Strand von Jurmala, einem der schönsten der Ostseeküste. Er ist 33 Kilometer lang und bietet alles, was Urlauber schätzen: feiner Sand, 4000 bunte Holzhäuser, hübsche Villen.
Das Wasser ist sauber, weil nach dem Ende der sowjetischen Besatzung die Zellulose-Fabrik geschlossen und eine Kläranlage gebaut wurde. Nur so richtig warm wird das Wasser der Ostsee wohl erst, wenn durch den Klimawandel Palmen statt Kiefern wachsen sollten.
Im Kiefernwald abseits des Strands stehen die neuen Villen aus Stein, die Häuser der Millionäre, die sich nach der Wende ein großes Vermögen aufbauten. Der Chef einer Bank hat sich ein kleines Dorf gebaut, nur für sich und seine Gäste mit Tennishalle und Schwimmbad. Da er kein Grundstück fand, das groß genug war für seine Ansprüche, kaufte er der Stadt für eine halbe Million eine komplette Straße ab.
Schnäppchen gibt es nicht mehr, die Grundstückspreise ähneln langsam denen am Starnberger See nahe München. Alles, wirklich alles wird teurer. Es ist paradox, aber die Bürger von Riga nehmen morgens den Billigflieger nach Berlin, um am Kudamm preiswert einzukaufen. Und die Textilfabrik vergibt wegen der hohen Löhne, die nirgends in der EU so stark steigen, Aufträge nach Weißrussland.
Die 2,3 Millionen Letten, die nicht zu den 2000 Millionären zählen, sorgen sich um ihre Zukunft – wie Klujeva, deren Augen feucht werden, wenn sie von der rapide gestiegenen Grundsteuer erzählt, die viele Alteingesessene im mondänen Badeort nicht mehr bezahlen können; die von der Geldentwertung spricht, fünfmal so hoch wie in Deutschland; und von Krediten, die viele nicht mehr bedienen können.
Diese Kredite verhalfen vielen, nach der Wende Häuser oder Wohnungen zu erwerben, auch dank der Gutscheine, mit denen Bürger das herrenlose Eigentum erwerben konnten. Ansprüche von Alteigentümern, wie in Deutschlands Osten, gab es kaum.
Die goldenen Zeiten Lettlands begannen – und enden zur Zeit jäh. Das Drama, das zwischen Dresden und Rostock schon lange spielt, wiederholt sich zwischen Liepaja, wo Oliver Kahns Vater geboren wurde, und Daugavpils. Vorzugsweise junge Menschen wandern gen Westen, lassen Deutschland links liegen und streben auf die britischen Inseln.
"Lettland ist nach Irland umgezogen", sagt Klujeva. 80 000 wandern Jahr für Jahr aus. Das ist viel in einem Land, das nicht einmal so viele Einwohner wie Berlin hat.
Eher unwillkommen sind die Briten, die Woche für Woche mit Billigfliegern kommen, ihren Abschied vom Junggesellen-Dasein mit reichlich Alkohol feiern und nicht selten zur Randale neigen. "Riga wird zur Hauptstadt des Sextourismus und der englischen Rabauken", fürchtet Klujeva um die Zukunft der lettischen Hauptstadt, deren lebendige Altstadt zum Weltkultur-Erbe zählt.
Wer an einem warmen Spätsommer-Abend durch Riga flaniert, wird nicht früh ins Bett kommen. Die Stadt singt regelrecht – und dies hat nicht nur mit der Vorliebe der Letten zu tun, unentwegt ein Lied auf den Lippen, zumindest im Kopf zu summen.
Riga ist eine wunderschöne Stadt mit 800 Jugendstil-Villen, Backsteingotik und romanischen Kirchen, protzigen Bürgerhäusern, einem 700 Jahre alten Schloss und mittendrin dem prachtvollen Schwarzhäupterhaus, in dem sich einst unverheiratete Kaufleute zu einer Bruderschaft versammelten.
Eine Inschrift an der Fassade in deutscher Sprache verweist auf die lange deutsche Geschichte, auf Albert von Bremen, der Riga gründete, Deutschritter-Orden und Hanse – und Richard Wagner, der als Dirigent in Riga wirkte und seine Oper "Rienzi" schrieb.
Die junge Republik Lettland, vor 90 Jahren gegründet, ist ein westliches Land, was die Gegenwart ebenso bezeugt wie ihre Geschichte, in der aus dem Westen hoher kultureller Gewinn ebenso kam wie Unterwerfung und schlimmstes Leid.
Paul-Josef Raue
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