Anton Landgraf: Georgien als Schauplatz der “neuen Kriege” dieser Zeit

Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung entsteht ein Geflecht aus geopolitischem Großmachtstreben und asymmetrischen wirtschaftlichen, politischen und religiösen Interessen lokaler Oligarchen. Ist der Krieg in Georgien eine Vorschau auf die Struktur der »neuen Kriege« dieser Zeit?

von Anton Landgraf

Die Reise war ein Alptraum für die Sicherheitsberater und nur mit der Panik zu erklären, die viele ehemalige Ostblockstaaten erfasst hat. Gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski trafen die Regierungschefs der drei baltischen Staaten am Dienstag vergangener Woche in Tiflis ein, um Georgien ihrer Solidarität angesichts der »russischen Aggression« zu versichern. Unterwegs nahmen sie in Kiew noch den ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko mit. Ein Attentat oder eine verirrte Rakete über dem Kriegsgebiet hätte auf einen Schlag fünf Staatsoberhäupter gefährdet.

Solche Sicherheitsbedenken erschienen den osteuropäischen Politikern banal angesichts viel größerer Ängste, die das Auftreten Russlands im südlichen Kaukasus bei ihnen provozierte. »Heute Georgien, morgen dann die Ukraine, die baltischen Staaten und Polen«, erklärte der Sprecher des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski die Motive für die Reise.

Dass russische Panzer demnächst vor Riga oder Warschau auftauchen, ist nun nicht gerade wahrscheinlich. Alarmierend für die osteuropäischen Staaten ist es dennoch, dass Russland zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion in ein anderes Land einmarschierte – und der Westen außer moralischer Empörung nicht viel dagegenzusetzen hat. Und selbst die litauische und die polnische Regierung kritisieren diese Proteste als halb­herzig: Während sich die USA zumindest verbal umgehend mit Georgien solidarisierten und Russ­land ernsthafte Konsequenzen androhten, ver­mieden insbesondere Deutschland und Frank­reich einseitige Schuldzuweisungen.

Plötzlich tut sich die schon fast vergessene Kluft zwischen dem »alten« und dem »neuen Europa« erneut auf. In einem Interview mit der polnischen Zeitung Rzeczpospolita kritisierte Präsident Kaczynski, dass die Entscheidungen der EU in der Georgien-Krise »zwischen Berlin und Paris« getroffen worden seien. »Die Rede von einer gemeinsamen EU-Politik gegenüber Russland ist lächerlich. Wie soll diese Politik sein? Nachgiebig?« fragte Kaczynski. Die Einstellung Frankreichs und Deutschlands ergebe sich aus »historischen Erfahrungen und Interessen der Wirtschaftsunternehmen«, die in Russland das »große Geld« verdienen wollten, sagte er. Fast wie aus Trotz stimmte Polen am Wochenende dann der Stationierung des US-Raketenschildes zu – ein klares Zeichen dafür, dass die polnische Regierung im Zweifelsfall eher auf die USA als auf ihre westlichen Nachbarn vertraut.

Das »alte Europa« hat schließlich durchaus Gründe, vorsichtig zu sein. Seine Energieversorgung ist in hohem Maße von Russland abhängig, dessen Wohlwollen man bei diversen Konflikten von Iran bis nach Darfur benötigt. Jahrelang konnten Europäer die Stimmung in der russischen Regierung ignorieren. Bei dem Krieg gegen Serbien blieben die russischen Proteste ebenso wirkungslos wie bei der Anerkennung des Kosovo.

Das ist nun vorbei. Wegen der enormen Gewinne durch steigende Energiepreise fühlt sich Russland nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch wieder in der Lage, seine Interessen offensiv wahrzunehmen. Dazu gehört vor allem, das so genannte nahe Ausland unter Kontrolle zu bringen. Vor allem die zunehmende Ost-Ausdehnung der Nato wirkt auf den Kreml extrem bedrohlich. Vor dem Nato-Gipfel im Frühjahr in Buka­rest reagierte die russische Regierung schon fast hysterisch auf einen möglichen Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens.

Mit seinem aggressiven Vorgehen in Südossetien hat Russland deutlich gemacht, dass es künftig nicht mehr klein beigeben will, wenn es seine Belange gefährdet sieht. Es ist auch ein Indiz dafür, dass die Zeiten der vielgeschmähten Unipolarität, in denen die USA die einzige Supermacht waren, vorbei sind. Robert Kagan, einer der bekanntesten Theoretiker der Neokonservativen und Unterstützer von US-Präsidentschaftskandidat John McCain, bezeichnete vergangene Woche in der Washington Post den Krieg gegen Georgien sogar als einen Wendepunkt der Geschichte, »nicht weniger bedeutsam als der 9. November 1989, als die Berliner Mauer fiel«. Seiner Ansicht nach bedeutet die russische Invasion die »offizielle Rückkehr der Geschichte zu einem Wettkampf großer Mächte, fast im Stile des 19. Jahrhunderts, voller nachdrücklicher Nationalismen, Kämpfe um Einflusssphären und Territorien, und sogar mit dem Einsatz militärischer Macht zum Erreichen geopolitischer Ziele«.

Dabei hatte sich die Welt gerade an die so genannten asymmetrischen Kriege gewöhnt. Spätestens nach dem 11. September 2001 erklärten fast alle führenden Militärs, dass die Zeit territorialer Auseinandersetzungen zwischen souveränen Staaten vorbei sei. In diesen neuen Kriegen würden nicht mehr konventionelle Armeen, sondern islamistische Terrorgruppen und lokale Warlords dominieren.

So gesehen erscheint der Konflikt zwischen Russland und Georgien tatsächlich wie ein Relikt aus einem vergangenen Jahrhundert. Nach zahllosen Provokationen ging der autokratisch regierende Präsident Georgiens, Michail Saakaschwili, offenbar davon aus, mit einem schnellen Feldzug die separatistische Region Südossetien besetzen zu können. Die georgische Armee wurde in den vergangenen Jahren unter anderem auch – unter dubiosen Umständen – mit deutschen Waffen hochgerüstet und zum Teil von US-Ausbildern trai­niert: Der Militäretat des kleinen Landes stieg in den vergangenen fünf Jahren von 20 Millionen auf 1,5 Milliarden Dollar.

Dass seine Truppen bereits nach zwölf Stunden wieder aus Zchinwali flüchten mussten, lässt darauf schließen, dass die russische Armee nur auf einen solchen wahnwitzigen Angriff gewartet hatte. Anschließend rückten russische Einheiten auf georgisches Territorium vor und lassen seitdem – trotz eines Waffenstillstandes – keinen Zweifel daran, dass sie dort nach Belieben handeln können.

Für Kagan weist dieses Vorgehen auf künftige Konflikte hin, die in der künftigen multipolaren Weltordnung drohen. In Zukunft spielen seiner Meinung nach wirtschaftlich erfolgreiche Staaten wie Russland oder China eine wesentlich größere Rolle. Diese Länder könnten ihre autoritäre Politik mit Massenkonsum und kultureller Freizügigkeit verbinden: Der Kapitalismus funktioniere auch gut ohne Menschenrechte. Der Schrecken des vergangenen Jahrzehnts, der islamistische Fundamentalismus, stellt für Kagan hingegen nicht viel mehr als eine Art Rückzugsgefecht perspektivloser reaktionäre Mächte dar.

Dass sich diese Entwicklung nicht so linear voraussagen lässt, wie es Kagan macht, zeigt sich allerdings in Südossetien. Dort vermischen sich, ähnlich wie im benachbarten Abchasien oder im moldauischen Transnistrien, geopolitische Interessen und asymmetrische Strukturen. In diesen Ländern, die es eigentlich gar nicht gibt, haben Clan- und Bandenchefs das Sagen, während es für die verarmte Bevölkerung vermutlich kaum eine Rolle spielt, zu welchem Staat sie gehört. In Südossetien sind rund 60 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, während eine kleine Clique, die gute Verbindungen zur russchischen Regierung unterhält, vom Schmuggel, Waffen- und Drogenhandel profitiert. So schätzt der russische Zoll den Wert der geschmuggelten Waren in Südossetien auf eine halbe Milliarde US-Dollar – bei einer Bevölkerung, die gerade so groß wie die von Paderborn ist. Und in den russischen Nachbarrepubliken Dagestan, Inguschetien oder Tschetschenien warten lokale Clans und islamistische Gruppen nur darauf, ihre eigenen kleinen Reiche zu errichten.

Gut möglich also, dass die Tage der unipolaren Weltordnung gezählt sind, während die Konflikte aus dieser Zeit weiterhin bestehen bleiben. Sicher scheint daher nur eins: Die neue multipolare Ära wird kaum friedlicher sein als die alte Ordnung.

HEIMAT: Auf Suche nach Vorfahren

Tatjana stammt aus einer ehemals „begüterten Familie“ von Blankenfelde

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BLANKENFELDE – Aufregung herrschte kürzlich in der Gemeindeverwaltung Blankenfelde-Mahlow. Da stand eine hübsche junge Frau in der Tür. Sie stellte sich als Tatjana von Blankenfelde vor, die Familienforschung betreibt, erzählte Vera Seidel. Die Expertin vom Verein Historisches Dorf Dahlewitz, die gleich gegenüber der Gemeindeverwaltung in Blankenfelde wohnt, war vom Bürgermeister und den Mitarbeitern zu Hilfe gerufen worden. Ob es Vera Seidel gelingt, dem Besuch aus Riga bei seinen Recherchen zu helfen und zu klären, ob es für Tatjana und ihre Vorfahren einen geschichtlichen Zusammenhang mit dem Ort Blankenfelde geben könnte?

„Der Name bezieht sich jedoch kaum auf unseren Ort, sondern eher auf die seit dem Mittelalter in Berlin ansässige, bedeutende und einflussreiche Familie von Blankenfelde, die Patrizier der Stadt Berlin“, informierte Vera Seidel. Sie teilte weiter mit: Diese Vermutung ergab sich bei Nachfragen im Gespräch mit Tatjana, deren Vater sie öfter darauf hinwies, dass sie aus einer ehemals begüterten Familie „von Blankenfelde“ stamme, die bereits seit dem 14. Jahrhundert in ihrer jetzigen Heimat nachweisbar ist. So wäre es sicher kein Zufall, dass Johann Blankenfelde – aus der Patrizierfamilie in Berlin stammend – für seine diplomatischen Verdienste in Rom im Jahr 1514 Bischof in Reval wurde und 1524 auf Betreiben des Papstes zum Erzbischof von Riga gewählt wurde.

„Ganz nebenbei“ erwähnte Vera Seidel, dass Johann Blankenfelde als Diplomat 1512 in Rom (dort als „weiser Deutscher“ bezeichnet) im Auftrag des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg wichtige politische Fäden knüpfte, die allerdings am Ende eine wesentliche Rolle für die von Martin Luther 1517 verfassten 95 Thesen spielten (Ablasshandel in Verbindung mit einer bedeutenden finanziellen Transaktion).

Dennoch war der Besuch aus Riga nicht ganz umsonst nach Blankenfelde angereist. „Eine weitere originelle Überraschung für Tatjana war das Kennenlernen eines möglichen entfernten Verwandten in Blankenfelde“, erzählte Vera Seidel. Im sorgfältig ermittelten Stammbaum, den Roland Hahn für seine Familie besitzt, werde einer der Bürgermeister von Berlin, Wilke I. (Wilhelm) von Blankenfelde angeführt. „Von ihm zeigte er uns eine Kopie eines Gemäldes“, so die geschichtsbewanderte Seniorin. Auf dieses unvorbereitete Zusammentreffen stießen sie mit einem Glas Rotwein, von der Blankenfelder Kantorin Hanna Hahn gereicht, an.

Laut Vera Seidel wird nun Tatjana von Blankenfelde versuchen, die für ihre Linie möglichen Familienbeziehungen in eventuelle Übereinstimmung zu bringen. (Von Elke Höhne)

Bild: Für die Ortschronik ein Motiv: Tatjana von Blankenfelde und Bürgermeister Ortwin Baier.FOTO: GEMEINDE

„Menschen, die sich kennen, schießen nicht auf einander“

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Partnerschulen aus Bocholt, Litauen und Akmene trafen sich auf der Insel Usedom


Bocholt (pd). Bereits zum dritten Mal trafen sich Schülerinnen und Schüler der Hohe-Giethorst-Schule aus Bocholt im Rahmen eines internationalen Jugendcamps mit ihren Partnerschulen aus Litauen und Polen.
In der Woche vom 8.-13. Juni.2008 ging es in der Jugendbegegnungs- und –bildungsstätte Golm in Kamminke auf Usedom wieder sehr international zu. Insgesamt 64 Schülerinnen und Schüler aus Bocholt, der befreundeten Stadt Naujoji Akmene, (Litauen) und Sobotka (Polen) aus dem Landkreis Breslau, waren in der Einrichtung des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge zu Gast.

Für den Leiter der Jugendbegegnungsstätte, Dr. Nils Köhler, war es in zweierlei Hinsicht etwas Besonderes. Zum Ersten, weil an diesem Treffen Jugendliche aus drei Nationen teilnahmen und zum Zweiten, weil das Treffen von einer Hauptschule organisiert worden war. Normalerweise würden solche Projektangebote fast ausschließlich von Gymnasien angeboten.

Diese Projektwoche zum Thema: „Begegnungen in Osteuropa: Grenzerfahrungen – Arbeit für den Frieden“ war als Abschlussfahrt für vier gemeinsame Projektjahre gedacht. In diesen vier Jahren hatten die beteiligten Schülerinnen und Schüler an verschiedenen Projekten zum Thema: „Begegnung mit Osteuropa“ teilgenommen und manchen Sieger- und Landessiegerpreis erhalten.

Während der Projektwoche, die vom Deutsch-Polnischen Jugendwerk, der Stiftung Frieden und Gedenken, der EU sowie dem Kreis Borken und der Stadt Bocholt finanziell unterstützt wurde, lernten die Jugendlichen in Workshops und Exkursionen nach Peenemünde und Polen sowie in verschiedenen Vorträgen, wie sich das Leben in Osteuropa nach dem EU-Beitritt von Polen und Litauen verändert hat.

In erster Linie ging es bei diesem Treffen darum, dass sich die Jugendlichen näher kennen lernten. Daher kamen Freizeitaktivitäten, wie die gemeinsame Kanufahrt, ein Ausflug in die Kaiserbäder Heringsdorf und Ahlbeck sowie der gemeinsame Strandbesuch und die Fußballeuropameisterschaft, die man im kleinen auf dem Fußballplatz am Golm nachspielte, natürlich nicht zu kurz.

Ebenso durfte auch der Besuch auf dem Soldatenfriedhof auf dem Golm nicht fehlen, die Konfrontation mit einem der dunkelsten Kapitel deutscher und europäischer Geschichte. Dabei erinnerten sich besonders die beteiligten Lehrer an den Ausspruch des Zirchower Pastors Otto Simon, der während des ersten Besuches vor vier Jahren bei der Führung auf dem Golm den Jugendlichen sagte: „Menschen, die sich kennen, schießen nicht auf einander.“

Ein insgesamt gelungenes Treffen für alle Jugendlichen, die in dieser Woche auf der Insel Usedom waren, so das Fazit der Organisatoren dieser Jugendbegegnung.

Text und Foto: Klaus Held, Projektlehrer der Hohe-Giethorst-Schule Tel: 02872/ 9486998

BIld: Bereits zum dritten Mal trafen sich Schüler der Hohe-Giethorst-Schule aus Bocholt im Rahmen eines internationalen Jugendcamps mit ihren Partnerschülern aus Litauen und Polen auf der Insel Usedom.

Deutschland: Gehaltsunterschiede bei 22 Prozent

EU-Schnitt bei 15 Prozent – EU-Kommissar Spidla erklärt sich Schere durch hohe Frauenerwerbsquote in Deutschland – Österreich liegt mit 18 Prozent im schlechten Mittelfeld.

EU-Schnitt bei 15 Prozent – EU-Kommissar Spidla erklärt sich Schere durch hohe Frauenerwerbsquote in Deutschland – Österreich liegt mit 18 Prozent im schlechten Mittelfeld

Spidla differenzierte die Zahlen, indem er betonte, dass sich die Zahlen kaum durch unterschiedliche Bezahlung für gleiche Arbeit erklären lassen würden. Den wichtigsten Grund für die Schere sieht Spidla in der hohen Zahl an weiblichen Teilzeitkräften. Besonders interessantes Detail am Rande: Je geringer die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt ist, desto niedriger ist im Allgemeinen auch das Lohngefälle. Die große Schere in Deutschland ist demnach auch durch die relativ hohe Frauenerwerbsquote in Deutschland zu erklären.

Frauen 60 Prozent der GeringverdienerInnen

Zu ähnlich kritischen Ergebnissen kam eine Studie des Nürnberger Instituts für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) sowie des Lehrstuhls für Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik der Universität Nürnberg-Erlangen. Während Frauen demnach nur rund 35 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten ausmachen, stellen sie fast 60 Prozent der vollzeitbeschäftigten GeringverdienerInnen. Ihr Risiko sei auch größer, im Niedriglohnsektor zu bleiben, erklärten die ExpertInnen. So schaffte zwar jeder fünfte Mann innerhalb von sechs Jahren den Sprung über die Niedriglohnschwelle, bei den Frauen war es aber nur jede zehnte.

Der Bericht der EU-Kommission, der im Juli 2008 veröffentlicht wird, zeigt, dass sich die Lage am Arbeitsmarkt für Frauen quantitiv zwar verbessert hat. In dem Bericht ist von 12 Millionen neu geschaffenen Arbeitsplätzen seit 2000 die Rede, die mehrheitlich (7,5 Millionen) von Frauen besetzt wurden. Was die Qualität dieser Arbeitsplätze betrifft, räumt die EU-Kommission aber weiterhin Versäumnisse ein.

Spidla forderte von den Mitgliedsländern einmal mehr eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und mehr Frauen in Spitzenpositionen. Gleichzeitig forderte er die Arbeitgeber auf, das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit konsequenter anzuwenden. (APA/red)

Russen in Lettland: „Meine Heimat ist Riga“

Spuren russischer Vergangenheit. Die russisch-orthodoxe Kirche gewinnt auch in Riga wieder an Einfluss – unter der russischen Minderheit (Foto: Ballin/.rufo)

André Ballin, Riga. Den einen gelten sie als fünfte Kolonne, den anderen als unterdrückte Minderheit. Seit Jahren sorgt die Lage der Russen in Lettland für Streit zwischen Riga und Moskau. Leidtragender sind sie selbst.

Wuchtig steht der riesige schwarze Betonblock im sonst eher beschaulichen und heiteren Zentrum der alten Hansestadt Riga. Er wirkt etwas deplatziert und provokativ. Nicht nur äußerlich, sondern auch im Inneren birgt das Gebäude Konfliktstoff.

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Dunkle Vergangenheit, dunkles Museum. Das Okkupationsmuseum enthüllt die Schattenseiten der sowjetischen Besatzung schonungslos (Foto: Ballin/.rufo)

Dort befindet sich das lettische Okkupationsmuseum. Die Zeit der sowjetischen Besatzung wird von Letten und Russen bis heute unterschiedlich bewertet. Das Verhältnis beider Länder ist gespannt, darunter leidet vor allem die russische Minderheit in Lettland.

Kurze und wechselvolle Geschichte

Die Geschichte eines eigenständigen Lettlands ist noch jung. Erst 1918 erlangte der baltische Staat nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution seine Freiheit von Russland. „Viele versuchen daher bis heute diese Unabhängigkeit als einen Zufall der Geschichte darzustellen“, klagt Richards Petersons, ein Mitarbeiter des Okkupationsmuseums. Diese Theorie diene als Rechtfertigung der Annexion durch die Sowjetunion, meint er.

Tatsächlich wurde das Land nach dem Hitler-Stalin-Pakt unter Androhung von Gewalt 1940 der UdSSR angegliedert. Während des Zweiten Weltkrieges war Lettland von deutschen Truppen besetzt, 1945 marschierte erneut die Rote Armee ein. Noch zehn Jahre lang kämpften die „Waldbrüder“ als lettische Partisanen gegen die „Befreier“ aus Moskau.

Gezielte Russifizierung des Baltikums zu Sowjetzeiten

Viele Letten wurden in den ersten Jahren der Okkupation verschleppt, andere getötet. Gezielt setzte die Sowjetunion auf einen Zuzug von Russen, Ukrainern und Weißrussen ins Baltikum. So war 1989 bereits ein Drittel der Bevölkerung russisch. Vor allem in den großen Städten dominierte die russische Sprache.

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Geschichte: Die lettischen Roten Schützen trugen maßgeblich zum Sieg der Oktoberrevolution bei. Das wird heute gern vergessen (Foto: Ballin/.rufo)

Dann kam die Perestroika und mit ihr die Unabhängigkeit. Auf der Seite der Letten seien damals auch viele Russen auf die Straße gegangen, um für die Freiheit zu demonstrieren, erzählt Galina Iwanikina, eine etwa 50jährige Russin aus Riga. Alle sollten die gleichen Rechte haben.

Diskriminierung nach der Perestroika

„Doch plötzlich waren wir keine Bürger mehr“, erinnert sie sich. Das Recht, gewählt zu werden und zu wählen, wurde nur noch ethnischen Letten eingeräumt. Zudem sei für bestimmte Branchen ein Berufsverbot für Russen verhängt worden, klagt sie.

Die Regeln erstrecken sich selbst auf in Lettland geborene Russen. Wer als Russe die lettische Staatsbürgerschaft bekommen will, muss sich einer restriktiven Sprach- und Geschichtsprüfung unterziehen. Vor allem die Älteren bleiben dabei auf der Strecke. „Früher habe ich Lettisch nicht gebraucht und nun bin ich schon in einem Alter, wo es schwer fällt, Sprachen zu lernen“, sagt Iwanikina.

Streit um Schulreform, Okkupanten und SS-Legionäre

Auch die Jungen haben es nicht leicht. Vor ein paar Jahren hat Riga das Prüfungssystem trotz Massenprotesten fast vollständig auf lettisch umgestellt. Klarer Wettbewerbsnachteil für die Russen.

Wenn sie dann noch einerseits als Okkupanten beschimpft werden und andererseits ansehen müssen, wie lettische SS-Legionäre unbehelligt durch die Städte marschieren dürfen, trägt dies zur Polarisierung der Gesellschaft bei.

Moskau nutzt Baltenrussen für eigene Zwecke

So ist es leicht für Moskau, die russische Minderheit im Baltikum für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Sie werden wahlweise für Protestaktionen gegen US-Präsident Bush, die NATO-Osterweiterung oder den Abriss von Sowjetdenkmälern mobilisiert.

Eine „fünfte Kolonne“ des Kremls sind die Baltenrussen jedoch nicht, auch dank der EU, die in den letzten Jahren zahlreiche Verbesserungen, unter anderem bei der Reisefreiheit, durchgesetzt hat. Die Gegensätze sind geringer geworden.

„Meine Heimat ist Riga“

„Wir sind anders als die Russen in Russland – ruhiger und zurückhaltender“, sagt Iwanikina. Der Landescharakter habe auch die Mentalität der Russen dort geprägt, meint sie. So haben sich viele inzwischen arrangiert.

Sie sehen ihre Zukunft in Lettland und der EU und lernen fleißig Lettisch. „Irgendwann werden sie in Lettland hoffentlich ihre neue Heimat finden“, meint Petersons. Iwanikina hat das bereits getan. „Riga ist meine Heimat“, bekennt sie. Hier will sie ihren Lebensabend verbringen.

(ab/.rufo/Moskau)

Banker und Bauern

Deutsche in Lettland

Von Markus Häfner

„Was sagen Sie, wenn Sie auf der Straße als ´Russin` bezeichnet werden?“ Ein Schmunzeln huscht über die Lippen von Lydia K. und ihre Augen zwinkern lustig: „Wissen Sie, Herr Pastor Grahl, denen sage ich einfach: Ihr müsst noch viel, viel lernen…“

Mit ihren 69 Jahren hat sie schon vieles gehört – und anschließend vergeben. Lydia K. wurde 1936 in der Ukraine geboren. Als Deutsche, wie sie sagt. Auch wenn sie die deutsche Sprache heute nur noch selten spreche. Im Krieg musste sie mit ihrer Familie erst nach Polen fliehen und kurz darauf nach Deutschland. 1945 sei sie mit ihrer Mutter nach Nowosibirsk verschleppt worden. Dort wuchs sie auf, lebte in einem Raum, den sich sieben Familien teilen mussten. Einziger Vorteil: Im Winter bei Minus 40 Grad wurde es nicht so kalt. In Sibirien hatte man Russisch zu sprechen.

1954 durfte die 18-Jährige dann zu ihrer Schwester nach Riga reisen, wo sie bis heute lebt. In der Schule lernte sie Puschkin und Tolstoi lieben. Russisch, das war – unfreiwillig – die Sprache ihrer Kindheit, und es war natürlich die verordnete Sprache während der sowjetischen Okkupation Lettlands. „Aber immer wenn Weihnachten ist, dann kann man doch nicht anders sein als deutsch“, sagt Lydia lächelnd und denkt an Gebäck und deutsches Liedgut.

Schicksale hinter Schubladenbegriffen

Ihr bewegtes Leben, das sie an einem Sonntag im Mai dieses Jahres dem deutschen Pfarrer Martin Grahl erzählt, ist eines der vielen Schicksale, die hinter Schubladen-Begriffen wie „Russin“, „Deutsche“, „Russlanddeutsche“ oder auch „Ukrainedeutsche“ stehen, mit denen Lydia allesamt schon tituliert wurde. Zutreffend und doch jeweils nur Teil der ganzen Wahrheit.

Und es endet keineswegs bei der Hin- und Hergerissenheit zwischen zwei Kulturen. Dass sie kaum ein Wort Lettisch spricht, wird ihr heute oft zum Vorwurf gemacht. Teils berechtigt, teils aus Unwissenheit und einem allzu flüchtigen Blick auf die pluralistische Gesellschaft von heute.

Seit dem 13. Jahrhundert wurde Lettland in seiner wechselvollen Geschichte stark von deutschen Einflüssen geprägt. Architektonisch erinnern in Riga viele mittelalterliche Bauten an Zeiten der Hanse, des Deutschen Ordens und Bischofs. Die lange livländisch-kurländische Adelstradition auf dem Lande wird noch heute durch zahlreiche Gutshäuser belegt.

Heute leben wieder viele Deutsche in Lettland. Die meisten sind allerdings erst nach 1991 aus beruflichen oder privaten Gründen hierher gezogen und haben keine familiären Wurzeln im Baltikum. Zum Beispiel Martin Grahl, der als Auslandspfarrer für insgesamt fünf Jahre die deutschsprachige evangelisch-lutherische Kirche in Lettland leitet. Ähnlich wie er haben derzeit etwa 400 Geschäftsleute, Banker, Diplomaten oder Landwirte Lettland vorübergehend oder dauerhaft zu ihrer Wahlheimat bestimmt.

Es gibt allerdings auch Rückkehrer, wie den Verleger Harro von Hirschheydt, der mit seiner Frau ins lettische Aizpute (früher: Hasenpoth) kam, weil er hier geboren ist. Beide mussten mit ihren Familien dem Aufruf der Nationalsozialisten folgen, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 die bedingungslose „Rückführung auch des letzten deutschen Volksgenossen“ (Zitat aus der Rigaschen Rundschau vom 30.10.1939) ins damalige deutsche Reich anordnete. Das Ehepaar Hirschheydt gehört zu den wenigen „Deutschbalten“, die sich nach dem Ende der Sowjetzeit zur Rückkehr entschlossen. Die meisten der rund 60.000 Menschen, die zwischen 1939 und 1941 Lettland verlassen mussten, sowie deren Nachkommen blieben für immer in Deutschland und halten von dort aus die Erinnerung an ihre Heimat durch Landsmannschaft, deutschbaltische Kulturvereine und Ritterschaften wach.

Deutsche Einflüsse nur noch in der Kultur

Eine dritte Gruppe bilden die wenigen Deutschbalten, die sich Hitlers Umsiedlungsaufruf erfolgreich widersetzten und später auch den Verschleppungen in Gulags durch die Sowjetarmee entgingen bzw. diese Arbeitslager überlebten und später zurückkehrten. Ihre genaue Zahl ist unbekannt, aber so klein, dass man wohl sagen darf, dass ab 1941 auf dem heutigen lettischen Staatsgebiet keine nennenswerte deutschstämmige Bevölkerung mehr existierte.

Zur deutschsprachigen Bevölkerung zählt dagegen noch eine andere, wesentlich größere Gruppe. Die von Stalin aus Kernrussland in die Randstaaten der ehemaligen UdSSR vertriebenen Deutschen, die meist einfach so genannt wurden wie ihre Heimatregion: „Wolgadeutsche“, „Moskaudeutsche“, „Kaukasiendeutsche“. Heute haben diese rund 1400 Personen und ihre Nachkommen entweder die lettische Staatsbürgerschaft – oder aber sie sind, mit eingeschränkten Rechten, in Lettland als so genannte „Nichtbürger“ deutscher Nationalität registriert. Der für diese Personengruppe gerne verwendete Überbegriff „Russlanddeutsche“ ist deshalb problematisch, weil viele der darunter subsumierten Menschen aus Regionen stammen, die heute gar nicht mehr zu Russland, sondern etwa zur Ukraine gehören. So auch Lydia K.

Die von den Diktatoren Hitler und Stalin vorgenommenen Massenumsiedlungen sind somit dafür verantwortlich, dass in Lettland heute praktisch keine „deutsche Minderheit“ im Sinne eines besonderen Rechtsstatus mehr existiert. So wird man deutsche Spuren und Einflüsse künftig nur noch in der Kultur finden können, in Architektur, Literatur, Kunst oder Musik.

Und die jungen Deutschen, die heute nach Riga kommen? Als Bürger der erweiterten Europäischen Union werden historische Faktoren für sie zunehmend unwichtiger. Sie entscheiden sich – wie Pfarrer Martin Grahl – für Lettland, weil sie davon überzeugt sind, „dass es sich lohnt, in diesem jungen, unabhängigen, aufstrebenden Staat zu leben und zu arbeiten“.

Quelle: Baltische Rundschau, Nr. 6/7, 2005 / 7. Juli 2005

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DEUTSCHE IM BALTIKUM

Vor 8oo Jahren schon haben sich deutsche Kaufleute im Gefolge von Glaubensrittern an der baltischen Küste angesiedelt. Sie waren vermögend und bestimmten die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung vor allem in Estland und Lettland. Der Rathausplatz von Tallinn ist von deutschen Handwerkern und Kaufleuten geprägt.

Deutsche Vorherrschaft von Reval bis Kurland

Die Wellen des deutschen Missionseifers und ihrer Kolonialisierung haben alle drei baltischen Staaten erlebt. Die Altpreußen an der südlichen Ostseeküste sind im 12. Jahrhundert zerrieben oder germanisiert worden. Die Litauer zogen sich ins Land zurück und blieben selbständig. Der Deutsche Ritterorden besiedelte die Küstengebiete im 13. Jahrhundert und bekehrte auch die sich wehrenden Esten, gemeinsam mit den Dänen, die dort herrschten. Im Gefolge der Glaubensritter kamen die Kaufleute und erbauten am Fuße des dänischen Schlosses die Stadt Reval. Die Esten aber nannten die Stadt taani linn, dänische Stadt, woraus im Laufe der Zeit Tallinn wurde. Reval trat 1284 der Hanse bei und entwickelte sich schnell zu einer blühenden Stadt. 1346 verkauften die Dänen ihren Besitz an den Orden. Die Esten wurden, ähnlich wie die Letten, in ihrem eigenen Land bald zu erbuntertänigen Bauern oder Leibeigenen der deutschen Großgrundbesitzer. Die Ritter und Geistlichen beherrschten Stadt und Land vom Domberg aus. In der Unterstadt machten Kaufleute und Handwerker ihre Geschäfte.

Nationales Erwachen

Die Macht des Deutschen Ordens wurde im Livländischen Krieg (1558-1583) zerschlagen. Reval, Estland und Livland fielen zunächst an die Schweden, im 18. Jahrhundert dann an den Zar Peter der Grosse. Die Petersburger Zaren rührten die Vormachtstellung der Deutschbalten nicht an, die weiter das gesellschaftliche Leben bestimmten. Dadurch wurde z.B. die Leibeigenschaft viel früher als in Russland abgeschafft. Die drei Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland entsprachen nicht den heutigen Grenzen der baltischen Staaten, die wurden erst 1917/18 geschaffen. Der Untergang des russischen Zarenreiches 1917 und des deutschen Kaiserreiches 1918 machten die Unabhängigkeitserklärung von Esten, Letten und Litauern möglich. Sie wurde gegen die Rote Armee im Osten und deutsche Truppen im Süden durchgesetzt. 

Deutschbalten

Der Begriff “Baltikum” wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich. Damals begannen die 350 deutschen Adelsfamilien in Estland und Lettland, sich “Balten” zu nennen. Im Dritten Reich wurden “Baltendeutsche” daraus, um sie besser von anderen Volksdeutschen unterscheiden zu können. Die Deutschen, die unter Hitler “heim ins Reich” geholt wurden, nannten sich “Deutschbalten”. Esten, Letten und Litauer sahen sich nicht als Einheit. Sie wurden erst von den Westalliierten nach 1945 als Balten bezeichnet, um sie von den Sowjetbürgern aus dem Osten zu unterscheiden, die unter Stalin ans “Baltischen Meer”, an die Ostsee, umgesiedelt worden waren.

Das Memelland

7oo Jahre lang lebten Deutsche in dem schmalen Küstenstreifen an der Memel zusammen mit Kuren, Juden und Litauern. Der eisfreie Hafen war für Einheimische wie fremde Herrscher ein bedeutender Umschlagplatz. Die Völker vermischten sich und wurden zu Memelländern, die sich nach Preußen orientierten, im Gegensatz zu den Litauern im Landesinnern, die geschichtlich mit Polen verbunden waren. Der Memeler Dichter Simon-Dach hat im 17. Jh. die Stimmung eingefangen. Es gibt wohl keinen Ostpreußen der das Lied “Ännchen von Tharau” nicht kennt.Nach dem 1. Weltkrieg wurde das Memelland von Ostpreußen abgetrennt und den Franzosen unterstellte. Aber schon bald wurde es von den Truppen der jungen Republik Litauen eingenommen. Für die Bevölkerung änderte sich nicht viel. Erst mit dem Erstarken des Nationalsozialismus kam es in den 30er Jahren zu Machtkämpfen zwischen den Völkern. 1939 gelang es Adolf Hitler, Litauen zur Abtretung des Memellandes zu zwingen. Damals ahnte niemand, dass er noch im gleichen Jahr seine Interessen im Baltikum aufgeben würde.

Der Hitler-Stalin Pakt

Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt wurde am 23. August 1939 von Reichsaußenminister Ribbentrop und seinem russischen Amtskollegen Molotow in einer Nacht und Nebelaktion unterzeichnet. Der Pakt sollte den Nazis den Weg zur Unterwerfung Polens ebnen. Er enthielt ein geheimes Zusatzprotokoll, das Stalin im Gegenzug die Besetzung der baltischen Staaten im Juni 1940 ermöglichte. Zu Beginn des Russlandfeldzugs wurde die rote Armee von deutschen Truppen noch einmal zurückgeworfen. Im Herbst 1944, als die Ostfront zusammenbrach und die Wehrmacht sich zurückzog, befahlen die Nationalsozialisten, das gesamte Memelland zu evakuieren. Viele kamen auf der Flucht um. Die, die blieben, wurden mit wenigen Ausnahmen von den sowjetischen Machthabern nach Sibirien verbannt.In ganz Litauen leben heute etwa 10 000 Deutschstämmige. Viele haben es bis vor 10 Jahren nicht gewagt, Deutsch zu sprechen und sich zu ihrer Herkunft zu bekennen. Die Stadt Memel ist heute Klaipéda und liegt an dem Fluss Nemunas, früher Memel.

 

von Andrea Reischies

Förderinstitution und Netzwerk Schweizer Gerbert Ruef Stiftung im Baltikum

von Judith Benedikta Lewonig

BR: Wie kam es überhaupt zu einem Engagement der GEBERT RÜF STIFTUNG im Baltikum?

Franziska Breuning: Im Stiftungsstatut ist festgehalten, dass sich die Stiftung neben ihren Förderaktivitäten an schweizer Hochschulen auch in Osteuropa engagieren kann. Der Stiftungsrat hat dann konkretisiert, dass die Stiftung mit 10 bis 15 % der Erträge, das sind derzeit mehrere hunderttausend Franken, im Bereich Wissenschaftsförderung in den baltischen Staaten tätig wird. Im Frühjahr 2000 wurde das Programm begonnen, indem ein Diplomat, der als Botschaftsrat schon Erfahrung im Baltikum gesammelt hatte (Max Schweizer), beauftragt wurde, ein Programm zu initiieren und für die spätere Fördertätigkeit sozusagen in den baltischen Staaten „die Türen aufzumachen“. Es wurde in dieser Zeit mit einer relativ breiten Förderung begonnen – vom Schul- über den Hochschulbereich bis zum Bibliotheksbereich mit der Einrichtung von Schweizer Lesesälen und Leseecken. Sehr gut angelaufen sind Kooperationen, die mit einzelnen schweizerischen Hochschulen gestartet wurden und auf die aufgebaut werden kann. Nach einem breiten Engagement in den ersten zwei Jahren in Wissenschaft und Kultur sowie des Kontakteknüpfens erfolgt nun eine Fokussierung auf den Wissenschaftssektor.

BR: Wie sieht Ihr Programmauftrag nun aus?

Franziska Breuning
: Im Sommer letzten Jahres wurde das zweijährige Aufbauprogramm evaluiert und geprüft, wie ein den Strategien der Stiftung entsprechendes wissenschaftsbezogenes Programm für das Baltikum geschaffen werden kann. Die zwei Grundideen sind einerseits der Aufbau von Wissenschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und den baltischen Staaten und anderseits die akademische Nachwuchsförderung. Diese beiden Grundpfeiler sollen nun die Basis bilden für ein profiliertes Förderprogramm, wo auch nach außen sichtbar wird, was gefördert wird.
BR: Wo liegen die Förderungs-Schwerpunkte im Baltikum?
Franziska Breuning: Die Stiftung macht an sich Projekt- und keine Personenförderung. Für das Baltikumprogramm haben wir jedoch ein Kernprogramm Stipendien entwickelt. Hier ist die Hauptidee, junge Wissenschaftler zu fördern, indem ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, für eine begrenzte Zeit in der Schweiz zu forschen. Wichtig dabei ist allerdings, dass sie nicht dauerhaft in der Schweiz bleiben. Das ist ein wichtiger Punkt: Die Idee ist, dass die Wissenschaftler an den hervorragenden Schweizer Hochschulen sehr avancierte Methoden kennen lernen und damit zu Hause ihre Arbeiten noch besser machen können als sie es jetzt schon tun. Mit diesen jungen Leuten soll sozusagen in den Aufbau der Demokratie nochmals ein frischer Wind hineinkommen.
BR: Stehen bestimmte Studienrichtungen im Vordergrund?
Franziska Breuning: Das Stipendienprogramm steht prinzipiell allen Fächern offen. Die gegenwärtigen „Junior Research Fellowship Programme“, welche die Stiftung in Kooperation mit Schweizer Hochschulen durchführt, sind aufgrund der Bedürfnislage auf Rechts- und Wirtschaftswissenschaft ausgerichtet. Der dritte Bereich Natur- und Ingenieurwissenschaften stellt aufgrund der exzellenten eidgenössischen Hochschulen eine Attraktion für alle ausländischen Nachwuchswissenschaftler dar.
BR: Und welche Möglichkeiten bieten sich für Interessierte außerhalb dieser Fachrichtungen?

Franziska Breuning:
Für Forschungsaufenthalte können sich Interessierte auch direkt bei der Stiftung bewerben. Für hervorragende junge Wissenschaftler, die nicht in unsere fachspezifischen Stipendienprogramme passen, vergibt die Stiftung seit diesem Jahr fünf individuelle Stipendien jährlich.
BR: Welches Alter ist angesprochen?
Franziska Breuning: Grundsätzlich sind Postgraduierte bis 32 Jahre unsere Zielgruppe.
BR: Wie ist die Stiftung außerhalb des Kernprogrammes Stipendien im Baltikum tätig?
Franziska Breuning: Es gibt weitere Förderprogramme wie „Science Visits“ für Interessierte, die an Konferenzen in der Schweiz teilnehmen wollen.
Darüber hinaus engagiert sich die Stiftung auch im Experten-Austausch in beiden Richtungen, zum Beispiel halten Schweizer Professoren Vorlesungen an Universitäten im Baltikum, wie Ende April im Rahmen von Schweizer Wissenschaftstagen an der Universität Siauliai und im Mai an der Rechtsuniversität Vilnius. Auch an der Architektur-Sommerakademie der Technischen Universität Riga werden Schweizer Vertreter teilnehmen.
Wir fungieren hier oft und gerne auch als Kommunikationsstelle. Die GEBERT RÜF STIFTUNG versteht sich gleichermaßen als Förderinstitution sowie als Netzwerk und Knotenpunkt, durch deren Zusammenarbeit mit anderen Institutionen wertvolle Synergien entstehen. Extrem gut ist auch die Kooperation mit den Botschaften und dem Generalkonsulat in Vilnius. Und es ist schön, dass das Engagement einer privaten Stiftung so große Anerkennung findet.
BR: Und die Stiftung vergibt Preise…
Franziska Breuning: Jährlich ergeht der mit 5.000 Franken (3.300 Euro) dotierte „Swiss Baltic Net Prize“ der GEBERT RÜF STIFTUNG in Kooperation mit der Universität Freiburg an eine Person oder Institution, die sich in besonderer Weise um die schweizerisch-baltischen Beziehungen verdient gemacht hat. Erstmals in diesem Jahr vergeben 15 baltische Universitäten „Swiss Baltic Net Graduate Awards“ in Höhe von 500 Franken (330 Euro) für herausragende Leistungen von Graduierten der jeweiligen Universität.
BR: Wie sieht die Zukunft der insgesamt 13 Schweizer Lesezimmer bzw. Leseecken aus?
Franziska Breuning: Die Förderung dieser Einrichtungen mit Büchern, Zeitschriftenabonnements und Veranstaltungen ist auch weiterhin Bestandteil unseres Programms. Im Rahmen eines Schweizer-Lesezimmer-Tages im Juni werde ich mit allen Leitern über Möglichkeiten der Kooperationen diskutieren.
BR: Die GEBERT RÜF STIFTUNG hat ihren Sitz in der Schweiz…
Franziska Breuning: Ich bin in Basel tätig, meine litauische Kollegin Egle Tamosaityte betreut unser Koordinationsaußenbüro an der Technischen Universität Kaunas in Litauen.

Bildunterschrift: Dr. Franziska Breuning, in der Nähe von Stuttgart aufgewachsenen, ist promovierte Kulturwissenschaftlerin. Foto: BR

Baltische Rundschau Mai 2003, S. 10

Academia Baltica gegruendet

Die neu gegründete in der Lübecker Altstadt beheimatete Academia Baltica (AB) versteht sich in der Tradition der Arbeit, die in vielen Jahren zuvor von der Ostsee-Akademie Travemünde geleistet wurde: Die Förderung der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Ländern Ostmitteleuropas und zunehmend des skandinavischen Raumes.

Zur Gründung der AB war es gekommen, nachdem Streitigkeiten mit der Pommerschen Landsmannschaft über die Inhalte der Arbeit zu einem Bruch sowohl mit dem bisherigen Leiter der Ostsee-Akademie, Dr. Dietmar Albrecht, als auch mit den finanziellen Trägern der Arbeit, mit Bundes- und Landesministerien, gekommen war. Vor allem Äußerungen der Pommerschen Landsmannschaft gegen eine Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands und die damit zusammenhängende Infragestellung von bestehenden Grenzen hatten diesen Bruch provoziert.
Ein Förderverein, dem unter anderem die Deutsch-Baltische Landsmannschaft und das Thomas-Mann-Kulturzentrum Nida angehören, übernahm nun die Trägerschaft der AB, die Leitung liegt in den Händen von Dr. Dietmar Albrecht. Finanziell getragen wird die AB – zumindest in der Anfangsphase – von Mitteln des Bundes und des Landes Schleswig-Holstein. Im diesjährigen AB-Programm finden sich rund 50 Veranstaltungen mit Osteuropa- und Ostseeraum-Bezug, wie eine Tagung „Lettland in Europa“ im Mai und eine Reise „Jüdische Spuren in Litauen und Lettland“ im September. „Baltische Rundschau“-Mitarbeiter Heiko Stern hat mit Academia Baltica Direktor Dr. Dietmar Albrecht über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesprochen.
Man kann von einer Geburt der Academia Baltica sprechen, eigentlich von einer Art Wieder- geburt. Fühlen Sie sich als Gebärender?
Dietmar Albrecht: Soweit ein Mann ein Kind zur Welt bringen kann, fühle ich mich schon als Gebärender, denn dieses neue Kind ist unter schmerzhaften Wehen zur Welt gekommen. Aber das Produkt ruft nun große Genugtuung hervor.
Wird es im Vergleich zur Ostsee-Akademie spürbare Veränderungen geben?
Dietmar Albrecht: Ich hoffe, dass wir nun befreit sind vom alltäglichen Kleinkrieg, von der Forderung, Vertriebeneninteressen und Interessen von Funktionären der Vertriebenen immer stärker zu berücksichtigen. Wir können die Arbeit nun dynamischer und bei Einsatz sehr knapper personeller Möglichkeiten auch gezielter und konkreter und viel breiter entfalten. Davon verspreche ich mir gute Perspektiven. Auch der Umzug in die Lübecker Altstadt rückt uns viel näher an die hansische Tradition. Ich habe das Gefühl, dass sich auch daraus eine ganz neue Dynamik entwickeln wird.
Wo liegen die Schwerpunkte der Arbeit der Akademie?
Dietmar Albrecht: Unser Auftrag von seiten der Bundesregierung – und hinter ihr steht ja der Steuerzahler – ist, für gute Nachbarschaft zwischen den Deutschen und den Ländern im Osten zu sorgen. Wir haben dafür möglichst viele Interessenten zu gewinnen, Interessenten aus Deutschland, die auch bereit sind zu zahlen für die Seminare, die Begegnungen, die diesem Ziel folgen. Und wir werben die Mittel ein, damit möglichst viele Nachbarn, ohne in die eigene enge Tasche greifen zu müssen, an ihnen teilnehmen können. Das ist das wichtigste Ziel.
Wir werden in Deutschland weitere Kreise gewinnen und ihr Interesse wecken müssen für die Arbeit mit unseren östlichen Nachbarn, denn in Deutschland ist die Neugierde am Osten Europas und die Bereitschaft, sich dort auch zu engagieren, immer noch verhältnismäßig gering.
Wenn Sie vom Osten Europas sprechen, an welche Länder denken Sie dabei am ehesten?
Dietmar Albrecht: Ja, unsere nächsten Nachbarn sind naturgemäß Polen und auch Tschechien, aber darüber hinaus die drei baltischen Republiken, und gerade Litauen in Verbindung mit dem Königsberger Gebiet und dem südlichen Ostpreußen liegt uns besonders nahe. Denn in dieser Region des alten Preußen entfaltet sich eine transnationale Gemeinsamkeit von Litauern, Russen, Polen und Deutschen, die für Europa zukunftsweisend sein kann. Ich glaube, da skizziere ich die Perspektive in die Zukunft richtig.
Darüber hinaus wollen wir aber in wachsendem Maße die Staaten des Nordens interessieren für den Süden und den Osten der Ostsee. Ich hoffe, wir können in diesem Gebiet verstärkt arbeiten, denn die Skandinavier und vor allem die Finnen haben wichtige Aufgaben in der Nachbarschaft mit den baltischen Staaten, mit den nördlichen Wojwodschaften Polens und mit der sehr schwierigen Kaliningrader Oblast, die zum schwarzen Loch hier in der Mitte Europas zu werden droht. Da werden wir uns alle noch verdammt anstrengen müssen.
Welche Partner haben Sie in Osteuropa? Sind es eher die gesellschaftlichen Eliten in diesen Ländern, mit denen Sie arbeiten wollen, auch im Sinne von Multiplikatoren, oder orientieren Sie sich an allgemein Interessierten?
Dietmar Albrecht: Ich halte nicht soviel von verkopfter Arbeit, denn da weiß schon immer jeder vom anderen, was er sagen wird. Die Eliten verkehren ohnehin miteinander. Sie sind oft recht abgehoben. Ich möchte über die mittlere Ebene, und das sind etwa Schulleiter von Dorfschulen oder Leiter von kleinen Museen, die Menschen vor Ort erreichen. Ich möchte zur unteren Ebene hinunter, soweit es geht und soweit es auch finanziell vertretbar ist.
Mit welchen Institutionen, Netzwerken und sonstigen Partnern wollen Sie zusammenarbeiten?
Dietmar Albrecht: Ein lieber und vertrauter Partner ist das Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nidden. Wir haben etliche Begegnungen bereits in Nidden durchgeführt, nicht nur zwischen Deutschland und Litauen, Polen und der Kaliningrader Oblast, sondern auch mit den skandinavischen Nachbarn. Dies wird sich verstärken.
Dazu kommen die Kulturvereinigung Borussia in Allenstein und Einrichtungen in Königsberg. Dies wird ein Schwerpunkt sein. Wir hoffen auch die lettischen und estnischen Nachbarn zu gewinnen für diese gemeinsame Arbeit vor Ort, etwa auf der Nehrung in Nidden oder in den benachbarten Regionen.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Arbeit mit dem westukrainischen Nachbarn, der etwas verloren, etwas heimatlos in Europa lebt, und auch mit dem tschechischen und slowakischen Nachbarn.
Wo liegen die Ziele der Tätigkeit der Academia Baltica, auch aus Ihren persönlichen Wünschen heraus?
Dietmar Albrecht: Wir möchten helfen, dass die Menschen überall, wo sie seit dem letzten Krieg wohnen, Wurzeln schlagen, sich sicher fühlen, eine Heimat haben. Es gab eine riesige, oftmals blutige Völkerwanderung in Europa, die zu großer Unruhe und Unsicherheit geführt hat.
Ich habe das Gefühl, dass in den Gebieten, wo die Menschen ausgewechselt wurden, immer noch eine große Geschichtslosigkeit und auch Heimatlosigkeit herrschen. Wir wollen, dass alle Menschen dort Sicherheit gewinnen, wo sie leben. Das ist Sicherheit von unten, die dauerhafter ist als alle politische oder militärische Sicherheit von oben.
Das Gedächtnis der Zeit und des Raumes mit dem eigenen Leben zu verbinden, das ist etwas, bei dem wir in allen diesen Regionen helfen wollen. Ich sehe das als eine ganz wichtige europäische Aufgabe der Zukunft, gerade angesichts der jüngsten weltpolitischen Entwicklungen.
Wie sind Sie selbst zu dieser Arbeit gekommen, wie wird man sozusagen Spiritus Rector der Academia Baltica?
Dietmar Albrecht: Ich habe es mit dem Osten. Ich war im Fernen Osten, in China. Von dort habe ich historische Gelassenheit und auch die Fähigkeit mitgebracht, sich neben Europa zu stehen und sich selbst zu beobachten. Die biographisch, e
motional, irrational und seelisch bedingte Liebe zum Osten verbinde ich mit dem, was ich in den zehn Jahren in und mit China gelernt habe.
Gerade in Litauen stößt dies auf eine seltsame Verwandtschaft, vielleicht weil Litauen noch in großen Teilen eine agrarische, archaische Gesellschaft ist. Das Verständnis für den Osten ist den Deutschen mit dem Verlust der Ostgebiete gleichfalls verloren gegangen. Aber dies ist ein Beitrag, den die Deutschen in ihrer Mittellage leisten müssen. Die Chance dazu haben wir in diesen Jahren.
Diese Chance wird nicht auf unabsehbare Zeit bestehen bleiben, das Pendel der Geschichte schlägt weiter, und wir müssen in diesen Jahren, die wir überschauen können, den Menschen Sicherheit geben und unfriedliche Entwicklungen in der Zukunft nach Möglichkeit vermeiden helfen. Das ist eine Aufgabe, die füllt ein Leben aus und die wird mir auch weiterhin Freude machen.

Baltische Rundschau Nr. 4, April 2002