DEUTSCHE IM BALTIKUM

Vor 8oo Jahren schon haben sich deutsche Kaufleute im Gefolge von Glaubensrittern an der baltischen Küste angesiedelt. Sie waren vermögend und bestimmten die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung vor allem in Estland und Lettland. Der Rathausplatz von Tallinn ist von deutschen Handwerkern und Kaufleuten geprägt.

Deutsche Vorherrschaft von Reval bis Kurland

Die Wellen des deutschen Missionseifers und ihrer Kolonialisierung haben alle drei baltischen Staaten erlebt. Die Altpreußen an der südlichen Ostseeküste sind im 12. Jahrhundert zerrieben oder germanisiert worden. Die Litauer zogen sich ins Land zurück und blieben selbständig. Der Deutsche Ritterorden besiedelte die Küstengebiete im 13. Jahrhundert und bekehrte auch die sich wehrenden Esten, gemeinsam mit den Dänen, die dort herrschten. Im Gefolge der Glaubensritter kamen die Kaufleute und erbauten am Fuße des dänischen Schlosses die Stadt Reval. Die Esten aber nannten die Stadt taani linn, dänische Stadt, woraus im Laufe der Zeit Tallinn wurde. Reval trat 1284 der Hanse bei und entwickelte sich schnell zu einer blühenden Stadt. 1346 verkauften die Dänen ihren Besitz an den Orden. Die Esten wurden, ähnlich wie die Letten, in ihrem eigenen Land bald zu erbuntertänigen Bauern oder Leibeigenen der deutschen Großgrundbesitzer. Die Ritter und Geistlichen beherrschten Stadt und Land vom Domberg aus. In der Unterstadt machten Kaufleute und Handwerker ihre Geschäfte.

Nationales Erwachen

Die Macht des Deutschen Ordens wurde im Livländischen Krieg (1558-1583) zerschlagen. Reval, Estland und Livland fielen zunächst an die Schweden, im 18. Jahrhundert dann an den Zar Peter der Grosse. Die Petersburger Zaren rührten die Vormachtstellung der Deutschbalten nicht an, die weiter das gesellschaftliche Leben bestimmten. Dadurch wurde z.B. die Leibeigenschaft viel früher als in Russland abgeschafft. Die drei Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland entsprachen nicht den heutigen Grenzen der baltischen Staaten, die wurden erst 1917/18 geschaffen. Der Untergang des russischen Zarenreiches 1917 und des deutschen Kaiserreiches 1918 machten die Unabhängigkeitserklärung von Esten, Letten und Litauern möglich. Sie wurde gegen die Rote Armee im Osten und deutsche Truppen im Süden durchgesetzt. 

Deutschbalten

Der Begriff “Baltikum” wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich. Damals begannen die 350 deutschen Adelsfamilien in Estland und Lettland, sich “Balten” zu nennen. Im Dritten Reich wurden “Baltendeutsche” daraus, um sie besser von anderen Volksdeutschen unterscheiden zu können. Die Deutschen, die unter Hitler “heim ins Reich” geholt wurden, nannten sich “Deutschbalten”. Esten, Letten und Litauer sahen sich nicht als Einheit. Sie wurden erst von den Westalliierten nach 1945 als Balten bezeichnet, um sie von den Sowjetbürgern aus dem Osten zu unterscheiden, die unter Stalin ans “Baltischen Meer”, an die Ostsee, umgesiedelt worden waren.

Das Memelland

7oo Jahre lang lebten Deutsche in dem schmalen Küstenstreifen an der Memel zusammen mit Kuren, Juden und Litauern. Der eisfreie Hafen war für Einheimische wie fremde Herrscher ein bedeutender Umschlagplatz. Die Völker vermischten sich und wurden zu Memelländern, die sich nach Preußen orientierten, im Gegensatz zu den Litauern im Landesinnern, die geschichtlich mit Polen verbunden waren. Der Memeler Dichter Simon-Dach hat im 17. Jh. die Stimmung eingefangen. Es gibt wohl keinen Ostpreußen der das Lied “Ännchen von Tharau” nicht kennt.Nach dem 1. Weltkrieg wurde das Memelland von Ostpreußen abgetrennt und den Franzosen unterstellte. Aber schon bald wurde es von den Truppen der jungen Republik Litauen eingenommen. Für die Bevölkerung änderte sich nicht viel. Erst mit dem Erstarken des Nationalsozialismus kam es in den 30er Jahren zu Machtkämpfen zwischen den Völkern. 1939 gelang es Adolf Hitler, Litauen zur Abtretung des Memellandes zu zwingen. Damals ahnte niemand, dass er noch im gleichen Jahr seine Interessen im Baltikum aufgeben würde.

Der Hitler-Stalin Pakt

Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt wurde am 23. August 1939 von Reichsaußenminister Ribbentrop und seinem russischen Amtskollegen Molotow in einer Nacht und Nebelaktion unterzeichnet. Der Pakt sollte den Nazis den Weg zur Unterwerfung Polens ebnen. Er enthielt ein geheimes Zusatzprotokoll, das Stalin im Gegenzug die Besetzung der baltischen Staaten im Juni 1940 ermöglichte. Zu Beginn des Russlandfeldzugs wurde die rote Armee von deutschen Truppen noch einmal zurückgeworfen. Im Herbst 1944, als die Ostfront zusammenbrach und die Wehrmacht sich zurückzog, befahlen die Nationalsozialisten, das gesamte Memelland zu evakuieren. Viele kamen auf der Flucht um. Die, die blieben, wurden mit wenigen Ausnahmen von den sowjetischen Machthabern nach Sibirien verbannt.In ganz Litauen leben heute etwa 10 000 Deutschstämmige. Viele haben es bis vor 10 Jahren nicht gewagt, Deutsch zu sprechen und sich zu ihrer Herkunft zu bekennen. Die Stadt Memel ist heute Klaipéda und liegt an dem Fluss Nemunas, früher Memel.

 

von Andrea Reischies

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