Identität oder Globalisierung?
Polen gehört neben der Slowakei und Litauen zu den Ländern des „neuen Europa“, von denen die Volkswirte des Internationalen Währungsfonds am ehesten erwarten, dass sie die aktuelle Finanzkrise relativ unbeschadet überstehen. Im vergangenen Jahr wuchs die polnische Wirtschaft um 6,6 Prozent (gegenüber 8,7 Prozent in der Slowakei und 6,9 Prozent in Litauen). Der IWF erwartet, dass das polnische BSP in diesem Jahr krisenbedingt auf 4,9 Prozent absinken wird (gegenüber 1,8 Prozent im EU-Durchschnitt).
Die EU-Kommission erwartet für Polen in diesem Jahr sogar noch ein Wachstum von 5,3 Prozent. Das wäre mehr als respektabel. Der Augenschein lässt auch kaum etwas anderes erwarten. Das ganze Land ist zur Baustelle geworden. Und die Polen, lange Zeit Stiefkinder der wirtschaftlichen Entwicklung, sehen den Zeitpunkt heranrücken, an dem sie den mit Subventionen verwöhnten, aber kaum vom Fleck kommenden deutschen Osten weit hinter sich gelassen haben werden.
Dennoch sehen viele polnische Wirtschaftsakteure dunkle Wolken am Horizont aufziehen, und zwar vom Westen und vom Osten her zur gleichen Zeit. Sie machen sich vor allem Sorgen um die energetische Basis ihres Wirtschaftsaufschwungs. Zwar leben die Polen buchstäblich auf einem Berg von Stein- und Braunkohle und könnten der Zukunft insofern gelassen entgegensehen. Nach Auskunft des zentralen Bergbauinstituts GIG liefert Steinkohle derzeit 48 Prozent und Braunkohle 12 Prozent der Primärenergie. Polens Stromversorgung beruht zu 95 Prozent auf der Verbrennung von Kohle, wobei 55 Prozent auf Steinkohle und 40 Prozent auf Braunkohle entfallen. Der auf Kohlebasis erzeugte Strom kostet nach Auskunft des GIG nur halb so viel wie Strom aus Gasturbinen.
Das GIG schätzt Polens Steinkohlevorräte auf nicht weniger als 15 Milliarden Tonnen. Einschließlich noch nicht erschlossener Vorkommen könnten die polnischen Kohlevorräte insgesamt 50 Milliarden Tonnen erreichen. Doch die Polen fürchten nun, dass dieser Schatz durch das am 23. Januar 2008 von der EU beschlossene „Klima-Paket“ (20 Prozent mehr Energie-Effienz, 20 Prozent weniger CO2, 20 Prozent-Mindestanteil „erneuerbarer“ Energien) und die ab 2013 vorgesehene Komplettversteigerung von CO2-Zertifikaten im Rahmen des Europäischen Emissionshandelssystems ETS entwertet wird. Polen hat für die Handelsperiode von 2008 bis 2012 statt der beantragten 284,6 Millionen Jahrestonnen CO2 von der EU nur eine CO2-Quote von 208,5 Jahrestonnen zugeteilt bekommen.
„Alles halb so schlimm“, versuchte Torbjörn Wahlborg, der Statthalter des schwedischen Staatskonzerns Vattenfall in Polen, am 12. September die Teilnehmer einer Podiumsdiskussion im Rahmen des 18. Economic Forum im polnischen Kurort Krynica zu beruhigen. Es gebe ja die Technik der Abscheidung und Verpressung von CO2 (Carbon Capture and Storage, kurz: CCS) aus Kohlekraftwerken, mit deren Erprobung Vattenfall gerade auf dem Gelände des brandenburgischen Braunkohlekraftwerks Schwarze Pumpe bei Spremberg begonnen habe. Er sagte nicht, dass es sich dabei um eine winzige Pilotanlage handelt, deren Ausstoß in Tankwagen abtransportiert wird, und dass diese Technik, nach einhelliger Einschätzung von Experten, ihre Marktreife noch lange nicht bewiesen hat. Fachleute schließen nicht aus, dass sich die Kosten der Kohleverstromung in der EU durch CCS und ETS um 50 oder gar 100 Prozent erhöhen werden. Es machte schon einen befremdlichen Eindruck, dass der neben Wahlborg auf dem Podium sitzende polnische Europa-Abgeordnete Jerzy Buzek das unkommentiert durchgehen ließ.
Dabei ist die Lage Polens und der baltischen Staaten an der östlichen Grenze der EU und des ETS äußerst heikel. Der estnische Wirtschaftsminister Einari Kisel rechnete vor, russische Kohlekraftwerke könnten den Strom nach 2012 für ein Drittel des Preises der durch ETS und „Klimapaket“ belasteten westlichen Kohlekraftwerke liefern. Die Russen bauen schon jetzt etliche neue Kohlekraftwerke, während sie ihr Erdgas gegen harte Devisen nach Westen liefern. Das ETS müsse deshalb durch einen Stromzoll an den Grenzen der EU ergänzt werden.
Noch schwieriger gestaltet sich der Umstieg von Kohle- auf Atomkraftwerke. Litauen musste als Preis für den Eintritt in die EU sein einziges Kernkraftwerk russischer Bauart bei Ignalina stilllegen. Als Ersatz dafür möchten Polen und die baltischen Staaten gemeinsam ein KKW des neuesten Typs (EPR) in Litauen bauen, sehen sich aber außerstande, dieses aus eigener Kraft zu finanzieren. Gerade hat der französisch-deutsche Reaktorbau-Konzern AREVA seine Kostenschätzung für den Bau des EPR-Reaktors bei Olkiluoto/Finnland von 3 auf 4,5 Mrd. Euro angehoben. Gleichzeitig plant Russland den Bau eines deutlich billigeren Kernkraftwerkes bei Kaliningrad und bietet den Polen und Balten den von diesem erzeugten Strom als Alternative zum unbezahlbaren EPR-Projekt an. „Putin möchte wie Stalin regieren, aber mit den Methoden von Abramowicz“, schloss der britische Unterhaus-Abgeordnete Denis MacShane daraus.
Durchsichtig sind nach Ansicht der meisten Osteuropäer auch die Motive hinter den Projekten einer Pipeline unter der Ostsee (North Stream) und deren südlicher Entsprechung durch das Schwarze Meer (South Stream). Die Durchquerung der Ostsee kostet dreimal so viel wie eine Pipeline durch die Ukraine und Polen. Außer dem Wunsch, ehemaligen Satellitenstaaten Russlands wie der Ukraine den Gas- beziehungsweise Ölhahn zudrehen zu können, ohne die Geschäfte mit Westeuropa unterbrechen zu müssen, gibt es dafür keine Erklärung. Unabhängige Wissenschaftler wie etwa Alexej Khaytun, der Chef des russischen Europa-Instituts RAS, bestätigen das. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen dem russisch-italienischen South Stream und dem längere Zeit von der EU favorisierten Nabucco-Projekt einer Pipeline außerhalb des russischen Territoriums. Obwohl die meisten mittel- und osteuropäischen Länder nach wie vor das Nabucco-Projekt vorziehen, gilt dieses in den Augen westeuropäischer Politiker und Investoren seit dem Ausbruch der Georgien-Krise als kaum noch realisierbar. Vermutlich lag der rumänische Abgeordnete Cozmin Horea Gusa richtig, als er am 11. September 2008 erklärte: „Seit dem 11. September 2001 ist die Welt wieder zweigeteilt. Der Westen sollte seine Identität verteidigen, statt blind auf die Globalisierung zu vertrauen.“
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