Banker und Bauern

Deutsche in Lettland

Von Markus Häfner

„Was sagen Sie, wenn Sie auf der Straße als ´Russin` bezeichnet werden?“ Ein Schmunzeln huscht über die Lippen von Lydia K. und ihre Augen zwinkern lustig: „Wissen Sie, Herr Pastor Grahl, denen sage ich einfach: Ihr müsst noch viel, viel lernen…“

Mit ihren 69 Jahren hat sie schon vieles gehört – und anschließend vergeben. Lydia K. wurde 1936 in der Ukraine geboren. Als Deutsche, wie sie sagt. Auch wenn sie die deutsche Sprache heute nur noch selten spreche. Im Krieg musste sie mit ihrer Familie erst nach Polen fliehen und kurz darauf nach Deutschland. 1945 sei sie mit ihrer Mutter nach Nowosibirsk verschleppt worden. Dort wuchs sie auf, lebte in einem Raum, den sich sieben Familien teilen mussten. Einziger Vorteil: Im Winter bei Minus 40 Grad wurde es nicht so kalt. In Sibirien hatte man Russisch zu sprechen.

1954 durfte die 18-Jährige dann zu ihrer Schwester nach Riga reisen, wo sie bis heute lebt. In der Schule lernte sie Puschkin und Tolstoi lieben. Russisch, das war – unfreiwillig – die Sprache ihrer Kindheit, und es war natürlich die verordnete Sprache während der sowjetischen Okkupation Lettlands. „Aber immer wenn Weihnachten ist, dann kann man doch nicht anders sein als deutsch“, sagt Lydia lächelnd und denkt an Gebäck und deutsches Liedgut.

Schicksale hinter Schubladenbegriffen

Ihr bewegtes Leben, das sie an einem Sonntag im Mai dieses Jahres dem deutschen Pfarrer Martin Grahl erzählt, ist eines der vielen Schicksale, die hinter Schubladen-Begriffen wie „Russin“, „Deutsche“, „Russlanddeutsche“ oder auch „Ukrainedeutsche“ stehen, mit denen Lydia allesamt schon tituliert wurde. Zutreffend und doch jeweils nur Teil der ganzen Wahrheit.

Und es endet keineswegs bei der Hin- und Hergerissenheit zwischen zwei Kulturen. Dass sie kaum ein Wort Lettisch spricht, wird ihr heute oft zum Vorwurf gemacht. Teils berechtigt, teils aus Unwissenheit und einem allzu flüchtigen Blick auf die pluralistische Gesellschaft von heute.

Seit dem 13. Jahrhundert wurde Lettland in seiner wechselvollen Geschichte stark von deutschen Einflüssen geprägt. Architektonisch erinnern in Riga viele mittelalterliche Bauten an Zeiten der Hanse, des Deutschen Ordens und Bischofs. Die lange livländisch-kurländische Adelstradition auf dem Lande wird noch heute durch zahlreiche Gutshäuser belegt.

Heute leben wieder viele Deutsche in Lettland. Die meisten sind allerdings erst nach 1991 aus beruflichen oder privaten Gründen hierher gezogen und haben keine familiären Wurzeln im Baltikum. Zum Beispiel Martin Grahl, der als Auslandspfarrer für insgesamt fünf Jahre die deutschsprachige evangelisch-lutherische Kirche in Lettland leitet. Ähnlich wie er haben derzeit etwa 400 Geschäftsleute, Banker, Diplomaten oder Landwirte Lettland vorübergehend oder dauerhaft zu ihrer Wahlheimat bestimmt.

Es gibt allerdings auch Rückkehrer, wie den Verleger Harro von Hirschheydt, der mit seiner Frau ins lettische Aizpute (früher: Hasenpoth) kam, weil er hier geboren ist. Beide mussten mit ihren Familien dem Aufruf der Nationalsozialisten folgen, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 die bedingungslose „Rückführung auch des letzten deutschen Volksgenossen“ (Zitat aus der Rigaschen Rundschau vom 30.10.1939) ins damalige deutsche Reich anordnete. Das Ehepaar Hirschheydt gehört zu den wenigen „Deutschbalten“, die sich nach dem Ende der Sowjetzeit zur Rückkehr entschlossen. Die meisten der rund 60.000 Menschen, die zwischen 1939 und 1941 Lettland verlassen mussten, sowie deren Nachkommen blieben für immer in Deutschland und halten von dort aus die Erinnerung an ihre Heimat durch Landsmannschaft, deutschbaltische Kulturvereine und Ritterschaften wach.

Deutsche Einflüsse nur noch in der Kultur

Eine dritte Gruppe bilden die wenigen Deutschbalten, die sich Hitlers Umsiedlungsaufruf erfolgreich widersetzten und später auch den Verschleppungen in Gulags durch die Sowjetarmee entgingen bzw. diese Arbeitslager überlebten und später zurückkehrten. Ihre genaue Zahl ist unbekannt, aber so klein, dass man wohl sagen darf, dass ab 1941 auf dem heutigen lettischen Staatsgebiet keine nennenswerte deutschstämmige Bevölkerung mehr existierte.

Zur deutschsprachigen Bevölkerung zählt dagegen noch eine andere, wesentlich größere Gruppe. Die von Stalin aus Kernrussland in die Randstaaten der ehemaligen UdSSR vertriebenen Deutschen, die meist einfach so genannt wurden wie ihre Heimatregion: „Wolgadeutsche“, „Moskaudeutsche“, „Kaukasiendeutsche“. Heute haben diese rund 1400 Personen und ihre Nachkommen entweder die lettische Staatsbürgerschaft – oder aber sie sind, mit eingeschränkten Rechten, in Lettland als so genannte „Nichtbürger“ deutscher Nationalität registriert. Der für diese Personengruppe gerne verwendete Überbegriff „Russlanddeutsche“ ist deshalb problematisch, weil viele der darunter subsumierten Menschen aus Regionen stammen, die heute gar nicht mehr zu Russland, sondern etwa zur Ukraine gehören. So auch Lydia K.

Die von den Diktatoren Hitler und Stalin vorgenommenen Massenumsiedlungen sind somit dafür verantwortlich, dass in Lettland heute praktisch keine „deutsche Minderheit“ im Sinne eines besonderen Rechtsstatus mehr existiert. So wird man deutsche Spuren und Einflüsse künftig nur noch in der Kultur finden können, in Architektur, Literatur, Kunst oder Musik.

Und die jungen Deutschen, die heute nach Riga kommen? Als Bürger der erweiterten Europäischen Union werden historische Faktoren für sie zunehmend unwichtiger. Sie entscheiden sich – wie Pfarrer Martin Grahl – für Lettland, weil sie davon überzeugt sind, „dass es sich lohnt, in diesem jungen, unabhängigen, aufstrebenden Staat zu leben und zu arbeiten“.

Quelle: Baltische Rundschau, Nr. 6/7, 2005 / 7. Juli 2005

Continue reading

Liedersingen auf Litauisch, Englisch und Deutsch

Kindergarten „Saules Gojus“ fördert individuell musikalische und sprachliche Fähigkeiten

Gesine greift nach Martins und Martinas’ Händen und stimmt mit kräftiger Dreijährigenstimme ein fröhliches Kinderlied an. Zaghaft stimmen die beiden älteren Jungen ein: Erst singen die drei auf Litauisch, dann auf Englisch, schließlich kennen sie sogar die deutsche Variante des Liedes. Im neu gegründeten, knapp hinter dem östlichen Stadtrand von Vilnius gelegenen Kindergarten „Saules Gojus“ (Sonnenwäldchen) ist Mehrsprachigkeit etwas Selbstverständliches. Grund hierfür ist neben seiner internationalen Ausrichtung das bilinguale Konzept des Kindergartens: „Wir haben eine litauisch-deutsche und eine litauisch-englische Gruppe mit maximal je 15 Kindern, in denen sich die Erzieherinnen ausschließlich in diesen Sprachen an die Kinder wenden“, erklärt Berit Gundermann. Die ausgebildete Sozialpädagogin ist die Mutter von Gesine und arbeitet als „Native Speaker“ an zwei Tagen in der Woche im Kindergarten. Jakob, ihr Jüngster, fühlt sich im Sonnenwäldchen ebenfalls pudelwohl. „Nach dem erprobten Prinzip ‚eine Person – eine Sprache’ lernen die Kinder die zweite Sprache mühelos“, so die 32-Jährige. Der frühe Beginn mit Fremdsprachen fördere zudem die gesamte kognitive Entwicklung.

Diese Ansicht teilt auch Laima Sirutiene, die Direktorin der Einrichtung. Die erfahrene Pädagogin und landesweit bekannte Expertin für musikalische Früherziehung weiß, dass „die ersten Lebensjahre von entscheidender Bedeutung für die Förderung der unterschiedlichen Intelligenzbereiche und die gesamte weitere Entwicklung sind.“ Über Fortbildungsveranstaltungen im Ausland hat sie vom Erfolg mehrsprachiger Kindertagesstätten erfahren. Ausschlaggebend für die Entscheidung waren jedoch ihre eigenen, in einer zweisprachigen Familie aufwachsenden Enkelkinder: „Wir hatten für Martinas und Emilija einfach keinen geeigneten Kindergarten finden können.“

Bis die beiden in den Kindergarten gehen konnten, hatte jedoch allerhand geschehen müssen: Nachdem ein passendes Anwesen an der Schumsker Landstraße gefunden worden war, half Laimas Familie von Anfang an bei der Verwirklichung dieses in Litauen bisher einzigartigen Projektes mit. Da wären zum einen die handwerkliche Unterstützung ihres Ehegatten Antanas oder die beratende Unterstützung ihrer Töchter Kristina, Dolmetscherin am Europäischen Parlament, und Dalia, Absolventin der Musikakademie und Chorleiterin. Auch ihr deutscher Schwiegersohn, Fremdsprachenlehrer Andreas Rodenbeck, brachte sich stark ein und hat beim Innenausbau des zweistöckigen Hauses mit angepackt. „Mit Unterstützung eines deutschen Architekten haben wir vernünftige und ökologische Lösungen finden können, die in Litauen ansonsten selten zu finden sind“, fasst der 34-Jährige die anstrengende Renovierungsphase zusammen. In verhältnismäßig kurzer Zeit konnte so mit Hilfe ortsansässiger Handwerker sowie dem tatkräftigen Einsatz befreundeter Familien das Haus im vergangenen Herbst renoviert werden. Nur die Außenarbeiten auf dem 5 000 Quadratmeter großen Gelände mussten auf den Frühling verlegt werden und sind zur Zeit im vollen Gange.

Eine der vielen Stärken von Saules Gojus sieht Laima Sirutiene neben der musikalischen Erziehung und der individuellen Förderung in dessen Naturnähe: „Im angrenzendem Wald können die Kinder jeden Tag stundenlang herumtollen.“ In diesem Sinne lege der Kindergarten ebenfalls viel Wert auf gesunde Ernährung und kaufe seine Nahrungsmittel ausschließlich bei ökologischen Erzeugern.
Besonders berufstätige Eltern wissen das Angebot zu schätzen, denn Saules Gojus ist für seine zwei- bis sechsjährigen Besucher nicht nur von Montag bis Freitag jeweils von 7.30 bis 19.00 Uhr geöffnet, sondern bietet darüber hinaus einen täglichen Fahrservice an.

Große Unterstützung erhält Saules Gojus auch vom Goethe-Institut Vilnius. Besonders der Leiter der Sprachabteilung, Roland Stumpf, involvierte sich von Anfang stark in das innovative Projekt und stellte den Kindern u.a. eine große Spielzeugkiste zur Verfügung – Geschenke, die der Kindergarten gern annimmt. Denn wie Laima Sirutiene betont, sei Saules Gojus eine öffentliche Einrichtung, die keinen Gewinn anstrebe: „Alle Familienmitglieder haben sich in der Anfangsphase verpflichtet, unentgeltlich zu arbeiten.“

Ronald Zieger

Baltische Rundschau 2005/06

Analyse zur lettischen Bildungsreform

In Lettland wurden jüngst Unterschriften gegen die Bildungsreform gesammelt. Damit protestiert die russischsprachige Bevölkerung dagegen, dass künftig mehr als 50 Prozent des Unterrichts in lettischer Sprache abgehalten werden soll.

Das Bildungsministerium ist nicht zu Unrecht der Ansicht, dass dieser Protest ein wenig spät kommt, da die entsprechende Gesetzgebung schon vor Jahren verabschiedet und unter der Regierung von Einars Repse, die bis Anfang 2004 im Amt war, sogar liberalisiert wurde. Ursprünglich waren nahezu 100 Prozent gefordert worden.

Richtig ist, dass die Proteste lang e in Zusammenhang mit der Staatsbürgerschaftsfrage erfolgten. Diese Diskussion kann nur vor dem Hintergrund der Geschichte gesehen werden. Nach Ende der Okkupation durch die Sowjetunion, in der Lettisch neben der russischen Staatssprache als unwichtig galt und der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung auf annähernd 50 Prozent stieg, erhoben die Leiten ihre eigene Muttersprache verständlicherweise wieder zur Staatssprache. Von den früheren Okkupanten verlangen sie nun ihrerseits, endlich die Landessprache zu erlernen. Dies wurde Voraussetzung für die Einbürgerung für jenen Teil der russischsprachig en Bevölkerung, dessen Vorfahren nicht schon in Lettland gelebt hatten. Wer einen Beruf mit Kundenkontakt ausübt, musste auch ohne lettische Staatsbürgerschaft eine Sprachprüfung vorweisen.

Im Westen stießen diese Regelungen zunächst auf heftige Kritik. Jahrelang wurden die lettischen Regierungen von einer Mission der OSZE in Riga beraten. Diese schloss jedoch zum 1. Januar 2002 ihre Pforten, nachdem Lettland alle Forderungen der internationalen Gemeinschaft erfüllt hatte.

Während Alltag und Arbeitsmarkt Lettlands im Grunde noch immer die Zweisprachigkeit fordern, versucht das Bildungsgesetz in mehreren Etappen, zunächst alle staatlichen Hochschulen und nach den Grundschulen nunmehr die Mittelschulen auf die Staatssprache festzulegen. Dies ist jedoch seit Jahren bekannt. Die derzeitigen Proteste dürften also nicht zuletzt mit den bevorstehenden Kommunalwahlen in Zusammenhang stehen. Gerade in Riga und Jurmala lässt sich so unter der russischsprachigen Bevölkerungsmehrheit die Stimmung schüren.

Zu Beginn des laufenden Schuljahres wurden Konflikte bis hin zu Straßenschlachten zwischen lettischen und russischsprachigen Schülern befürchtet. Es flog jedoch keine einzige Tomate. Gleiches dürfte für die jetzige Situation gelten.

Zweifel bleiben allein in praktischer Hinsicht. Lernen russischsprachige Schüler durch den höher en Unterrichtsanteil tatsächlich besser Lettisch? Erfassen sie dabei den Unterrichtsstoff schlechter? Und vor allem: Gibt es genügend Lehrer, die in der offiziellen Staatssprache unterrichten können, ohne ihrerseits Fehler zu machen?

 

von AXEL REETZ

Baltische Rundschau, 2/2005

Das etwas andere Gymnasium

Deutsche Sprache und Musik im Mittelpunkt

Am Samstag, dem 8. Mai, stand der Vilniusser Stadtteil Uzupis ganz im Zeichen der Feier des 60jährigen Gründungsjubiläums des Uzupis-Gymnasiums. Eingeladen waren neben Schülern, Lehrern und den Bewohnern des Stadtviertels auch alle 1700 bisherigen Absolventen sowie deutschsprachige Freunde aus dem In- und Ausland. Ein Report von Detlef Lang über eine Schule der etwas anderen Art.

Das Festprogramm umfasste Chorkonzerte, einen Basar, auf dem selbst hergestellte Arbeiten und Souvenirs der Schüler verkauft wurden, die Präsentation und den Verkauf eines Buches über die Schule sowie Tanz und Musik. Das Fest ging auf eine Initiative des Schuldirektors Vladas Malcevicius zurück, der seit 14 Jahren überaus erfolgreich amtiert.
Nach verschiedenen Namensänderungen in ihrer Geschichte hei?t die Schule seit einigen Jahren Uzupis Gymnasium. Die Schule kann für sich in Anspruch nehmen, auf die in Litauen längste Tradition in der schulischen Vermittlung der deutschen Sprache zurückblicken zu können. So stellt das Uzupis Gymnasium heute etwa mit Andreas Rodenbeck den einzigen sogenannten Programmlehrer für den Erwerb des Deutschen Sprachdiploms der Stufe 11 in Vilnius und Umgebung.
Derzeit werden 500 Schüler in vier Klassenstufen, beginnend mit der 9. Jahrgangsstufe, von insgesamt 45 speziell qualifizierten und fortgebildeten Lehrern unterrichtet. Als erste Fremdsprache ist Deutsch, sechs Lehrer, oder Englisch, vier Lehrer, möglich. Als zweite Fremdsprache stehen Deutsch, Englisch oder Russisch, zur Auswahl. Zudem wird den Schülern die Möglichkeit gegeben, zusätzlich Japanisch, Französisch oder Türkisch zu lernen.
Von der 11. Klasse an können die Schüler unter zwei Ausrichtungen wählen – einem humanistisch-sozialen Zweig mit zwei Sprachen sowie Sozialwissenschaften oder einer stärker naturwissenschaftlich orientierten Ausrichtung mit Biologie, Mathematik, Physik und Wirtschaftswissenschaften. Etwa 90 Prozent aller Uzupis-Absolventen, ein aussergewöhnlich hoher Anteil also, studieren nach dem Abitur an einer Hochschule.
Nach Aussage von Direktor Malcevicius stehen „für uns der Schüler und seine Persönlichkeit im Mittelpunkt". So war etwa Uzupis eines der ersten litauischen Gymnasien, das die Rechte und Pflichten von Schülern und Lehrern schriftlich in einem Dokument fixierte.
Eine weitere Besonderheit ist auch die eigene schulische Selbstverwaltung: Hier wird ein Schülervertreter gewählt, eine Zeitung herausgegeben und eigene Projekte und Veranstaltungen entwickelt.
Ein wichtiger Sponsor des Gymnasiums ist die deutsche Robert Bosch Stiftung; Kooperationen und Partnerschaften bestehen unter anderen mit dem Wernher von Braun-Gymnasium aus Neuhof im deutschen Bundesland Hessen und dem Rämibühl-Gymnasium in Zürich.
Die freundschaftliche Beziehung mit dem Zürcher Literatur- und Realgymnasium wird durch einen musikalischen Austausch gefestigt. Der Chor aus Uzupis und das Orchester aus Zürich gaben im September 2003 gemeinsame Konzerte in Zürich und Thun. Als Gegenbesuch zur Schweiz-Reise der Litauer unternahm das Rämibühler Orchester Ende März/Anfang April 2004 eine einwöchige Reise nach Vilnius. Manuel Walker, Schüler-Mitglied des dreiköpfigen Orchester-Präsidiums: „Wir haben auf dieser Konzertreise viele neue Erfahrungen gemacht und wertvolle Erlebnisse aus Litauen mitgenommen."
Höhepunkt waren zwei gemeinsame Konzerte des Chors aus Uzupis und des Orchesters aus Rämibühl im Alten Rathaus von Vilnius und in der Aula des Gymnasiums, unter anderen mit Auszügen aus Peter Tschaikowskys Ballett „Schwanensee" und dem litauischen Lied „Meine Heimat".
Chorleiterin Nijole Zyliene zur musikalischen Kooperation: „Durch diese Freundschaft entfalten die jungen Menschen nicht nur musikalische Fähigkeiten, sondern entwickeln auch ihre Persönlichkeit weiter." Und die Musikologin des Gymnasiums Janina Mazintiene ergänzt: „Wir wünschen uns, dass sich die Freundschaft zwischen dem litauischen und dem schweizerischen Gymnasium noch vertieft und die Erfolge beider Ensembles auch künftig viele Musikfreunde erfreuen."

Baltische Rundschau 5/2004

DEUTSCHE IM BALTIKUM

Vor 8oo Jahren schon haben sich deutsche Kaufleute im Gefolge von Glaubensrittern an der baltischen Küste angesiedelt. Sie waren vermögend und bestimmten die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung vor allem in Estland und Lettland. Der Rathausplatz von Tallinn ist von deutschen Handwerkern und Kaufleuten geprägt.

Deutsche Vorherrschaft von Reval bis Kurland

Die Wellen des deutschen Missionseifers und ihrer Kolonialisierung haben alle drei baltischen Staaten erlebt. Die Altpreußen an der südlichen Ostseeküste sind im 12. Jahrhundert zerrieben oder germanisiert worden. Die Litauer zogen sich ins Land zurück und blieben selbständig. Der Deutsche Ritterorden besiedelte die Küstengebiete im 13. Jahrhundert und bekehrte auch die sich wehrenden Esten, gemeinsam mit den Dänen, die dort herrschten. Im Gefolge der Glaubensritter kamen die Kaufleute und erbauten am Fuße des dänischen Schlosses die Stadt Reval. Die Esten aber nannten die Stadt taani linn, dänische Stadt, woraus im Laufe der Zeit Tallinn wurde. Reval trat 1284 der Hanse bei und entwickelte sich schnell zu einer blühenden Stadt. 1346 verkauften die Dänen ihren Besitz an den Orden. Die Esten wurden, ähnlich wie die Letten, in ihrem eigenen Land bald zu erbuntertänigen Bauern oder Leibeigenen der deutschen Großgrundbesitzer. Die Ritter und Geistlichen beherrschten Stadt und Land vom Domberg aus. In der Unterstadt machten Kaufleute und Handwerker ihre Geschäfte.

Nationales Erwachen

Die Macht des Deutschen Ordens wurde im Livländischen Krieg (1558-1583) zerschlagen. Reval, Estland und Livland fielen zunächst an die Schweden, im 18. Jahrhundert dann an den Zar Peter der Grosse. Die Petersburger Zaren rührten die Vormachtstellung der Deutschbalten nicht an, die weiter das gesellschaftliche Leben bestimmten. Dadurch wurde z.B. die Leibeigenschaft viel früher als in Russland abgeschafft. Die drei Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland entsprachen nicht den heutigen Grenzen der baltischen Staaten, die wurden erst 1917/18 geschaffen. Der Untergang des russischen Zarenreiches 1917 und des deutschen Kaiserreiches 1918 machten die Unabhängigkeitserklärung von Esten, Letten und Litauern möglich. Sie wurde gegen die Rote Armee im Osten und deutsche Truppen im Süden durchgesetzt. 

Deutschbalten

Der Begriff “Baltikum” wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich. Damals begannen die 350 deutschen Adelsfamilien in Estland und Lettland, sich “Balten” zu nennen. Im Dritten Reich wurden “Baltendeutsche” daraus, um sie besser von anderen Volksdeutschen unterscheiden zu können. Die Deutschen, die unter Hitler “heim ins Reich” geholt wurden, nannten sich “Deutschbalten”. Esten, Letten und Litauer sahen sich nicht als Einheit. Sie wurden erst von den Westalliierten nach 1945 als Balten bezeichnet, um sie von den Sowjetbürgern aus dem Osten zu unterscheiden, die unter Stalin ans “Baltischen Meer”, an die Ostsee, umgesiedelt worden waren.

Das Memelland

7oo Jahre lang lebten Deutsche in dem schmalen Küstenstreifen an der Memel zusammen mit Kuren, Juden und Litauern. Der eisfreie Hafen war für Einheimische wie fremde Herrscher ein bedeutender Umschlagplatz. Die Völker vermischten sich und wurden zu Memelländern, die sich nach Preußen orientierten, im Gegensatz zu den Litauern im Landesinnern, die geschichtlich mit Polen verbunden waren. Der Memeler Dichter Simon-Dach hat im 17. Jh. die Stimmung eingefangen. Es gibt wohl keinen Ostpreußen der das Lied “Ännchen von Tharau” nicht kennt.Nach dem 1. Weltkrieg wurde das Memelland von Ostpreußen abgetrennt und den Franzosen unterstellte. Aber schon bald wurde es von den Truppen der jungen Republik Litauen eingenommen. Für die Bevölkerung änderte sich nicht viel. Erst mit dem Erstarken des Nationalsozialismus kam es in den 30er Jahren zu Machtkämpfen zwischen den Völkern. 1939 gelang es Adolf Hitler, Litauen zur Abtretung des Memellandes zu zwingen. Damals ahnte niemand, dass er noch im gleichen Jahr seine Interessen im Baltikum aufgeben würde.

Der Hitler-Stalin Pakt

Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt wurde am 23. August 1939 von Reichsaußenminister Ribbentrop und seinem russischen Amtskollegen Molotow in einer Nacht und Nebelaktion unterzeichnet. Der Pakt sollte den Nazis den Weg zur Unterwerfung Polens ebnen. Er enthielt ein geheimes Zusatzprotokoll, das Stalin im Gegenzug die Besetzung der baltischen Staaten im Juni 1940 ermöglichte. Zu Beginn des Russlandfeldzugs wurde die rote Armee von deutschen Truppen noch einmal zurückgeworfen. Im Herbst 1944, als die Ostfront zusammenbrach und die Wehrmacht sich zurückzog, befahlen die Nationalsozialisten, das gesamte Memelland zu evakuieren. Viele kamen auf der Flucht um. Die, die blieben, wurden mit wenigen Ausnahmen von den sowjetischen Machthabern nach Sibirien verbannt.In ganz Litauen leben heute etwa 10 000 Deutschstämmige. Viele haben es bis vor 10 Jahren nicht gewagt, Deutsch zu sprechen und sich zu ihrer Herkunft zu bekennen. Die Stadt Memel ist heute Klaipéda und liegt an dem Fluss Nemunas, früher Memel.

 

von Andrea Reischies

Förderinstitution und Netzwerk Schweizer Gerbert Ruef Stiftung im Baltikum

von Judith Benedikta Lewonig

BR: Wie kam es überhaupt zu einem Engagement der GEBERT RÜF STIFTUNG im Baltikum?

Franziska Breuning: Im Stiftungsstatut ist festgehalten, dass sich die Stiftung neben ihren Förderaktivitäten an schweizer Hochschulen auch in Osteuropa engagieren kann. Der Stiftungsrat hat dann konkretisiert, dass die Stiftung mit 10 bis 15 % der Erträge, das sind derzeit mehrere hunderttausend Franken, im Bereich Wissenschaftsförderung in den baltischen Staaten tätig wird. Im Frühjahr 2000 wurde das Programm begonnen, indem ein Diplomat, der als Botschaftsrat schon Erfahrung im Baltikum gesammelt hatte (Max Schweizer), beauftragt wurde, ein Programm zu initiieren und für die spätere Fördertätigkeit sozusagen in den baltischen Staaten „die Türen aufzumachen“. Es wurde in dieser Zeit mit einer relativ breiten Förderung begonnen – vom Schul- über den Hochschulbereich bis zum Bibliotheksbereich mit der Einrichtung von Schweizer Lesesälen und Leseecken. Sehr gut angelaufen sind Kooperationen, die mit einzelnen schweizerischen Hochschulen gestartet wurden und auf die aufgebaut werden kann. Nach einem breiten Engagement in den ersten zwei Jahren in Wissenschaft und Kultur sowie des Kontakteknüpfens erfolgt nun eine Fokussierung auf den Wissenschaftssektor.

BR: Wie sieht Ihr Programmauftrag nun aus?

Franziska Breuning
: Im Sommer letzten Jahres wurde das zweijährige Aufbauprogramm evaluiert und geprüft, wie ein den Strategien der Stiftung entsprechendes wissenschaftsbezogenes Programm für das Baltikum geschaffen werden kann. Die zwei Grundideen sind einerseits der Aufbau von Wissenschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und den baltischen Staaten und anderseits die akademische Nachwuchsförderung. Diese beiden Grundpfeiler sollen nun die Basis bilden für ein profiliertes Förderprogramm, wo auch nach außen sichtbar wird, was gefördert wird.
BR: Wo liegen die Förderungs-Schwerpunkte im Baltikum?
Franziska Breuning: Die Stiftung macht an sich Projekt- und keine Personenförderung. Für das Baltikumprogramm haben wir jedoch ein Kernprogramm Stipendien entwickelt. Hier ist die Hauptidee, junge Wissenschaftler zu fördern, indem ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, für eine begrenzte Zeit in der Schweiz zu forschen. Wichtig dabei ist allerdings, dass sie nicht dauerhaft in der Schweiz bleiben. Das ist ein wichtiger Punkt: Die Idee ist, dass die Wissenschaftler an den hervorragenden Schweizer Hochschulen sehr avancierte Methoden kennen lernen und damit zu Hause ihre Arbeiten noch besser machen können als sie es jetzt schon tun. Mit diesen jungen Leuten soll sozusagen in den Aufbau der Demokratie nochmals ein frischer Wind hineinkommen.
BR: Stehen bestimmte Studienrichtungen im Vordergrund?
Franziska Breuning: Das Stipendienprogramm steht prinzipiell allen Fächern offen. Die gegenwärtigen „Junior Research Fellowship Programme“, welche die Stiftung in Kooperation mit Schweizer Hochschulen durchführt, sind aufgrund der Bedürfnislage auf Rechts- und Wirtschaftswissenschaft ausgerichtet. Der dritte Bereich Natur- und Ingenieurwissenschaften stellt aufgrund der exzellenten eidgenössischen Hochschulen eine Attraktion für alle ausländischen Nachwuchswissenschaftler dar.
BR: Und welche Möglichkeiten bieten sich für Interessierte außerhalb dieser Fachrichtungen?

Franziska Breuning:
Für Forschungsaufenthalte können sich Interessierte auch direkt bei der Stiftung bewerben. Für hervorragende junge Wissenschaftler, die nicht in unsere fachspezifischen Stipendienprogramme passen, vergibt die Stiftung seit diesem Jahr fünf individuelle Stipendien jährlich.
BR: Welches Alter ist angesprochen?
Franziska Breuning: Grundsätzlich sind Postgraduierte bis 32 Jahre unsere Zielgruppe.
BR: Wie ist die Stiftung außerhalb des Kernprogrammes Stipendien im Baltikum tätig?
Franziska Breuning: Es gibt weitere Förderprogramme wie „Science Visits“ für Interessierte, die an Konferenzen in der Schweiz teilnehmen wollen.
Darüber hinaus engagiert sich die Stiftung auch im Experten-Austausch in beiden Richtungen, zum Beispiel halten Schweizer Professoren Vorlesungen an Universitäten im Baltikum, wie Ende April im Rahmen von Schweizer Wissenschaftstagen an der Universität Siauliai und im Mai an der Rechtsuniversität Vilnius. Auch an der Architektur-Sommerakademie der Technischen Universität Riga werden Schweizer Vertreter teilnehmen.
Wir fungieren hier oft und gerne auch als Kommunikationsstelle. Die GEBERT RÜF STIFTUNG versteht sich gleichermaßen als Förderinstitution sowie als Netzwerk und Knotenpunkt, durch deren Zusammenarbeit mit anderen Institutionen wertvolle Synergien entstehen. Extrem gut ist auch die Kooperation mit den Botschaften und dem Generalkonsulat in Vilnius. Und es ist schön, dass das Engagement einer privaten Stiftung so große Anerkennung findet.
BR: Und die Stiftung vergibt Preise…
Franziska Breuning: Jährlich ergeht der mit 5.000 Franken (3.300 Euro) dotierte „Swiss Baltic Net Prize“ der GEBERT RÜF STIFTUNG in Kooperation mit der Universität Freiburg an eine Person oder Institution, die sich in besonderer Weise um die schweizerisch-baltischen Beziehungen verdient gemacht hat. Erstmals in diesem Jahr vergeben 15 baltische Universitäten „Swiss Baltic Net Graduate Awards“ in Höhe von 500 Franken (330 Euro) für herausragende Leistungen von Graduierten der jeweiligen Universität.
BR: Wie sieht die Zukunft der insgesamt 13 Schweizer Lesezimmer bzw. Leseecken aus?
Franziska Breuning: Die Förderung dieser Einrichtungen mit Büchern, Zeitschriftenabonnements und Veranstaltungen ist auch weiterhin Bestandteil unseres Programms. Im Rahmen eines Schweizer-Lesezimmer-Tages im Juni werde ich mit allen Leitern über Möglichkeiten der Kooperationen diskutieren.
BR: Die GEBERT RÜF STIFTUNG hat ihren Sitz in der Schweiz…
Franziska Breuning: Ich bin in Basel tätig, meine litauische Kollegin Egle Tamosaityte betreut unser Koordinationsaußenbüro an der Technischen Universität Kaunas in Litauen.

Bildunterschrift: Dr. Franziska Breuning, in der Nähe von Stuttgart aufgewachsenen, ist promovierte Kulturwissenschaftlerin. Foto: BR

Baltische Rundschau Mai 2003, S. 10

Academia Baltica gegruendet

Die neu gegründete in der Lübecker Altstadt beheimatete Academia Baltica (AB) versteht sich in der Tradition der Arbeit, die in vielen Jahren zuvor von der Ostsee-Akademie Travemünde geleistet wurde: Die Förderung der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Ländern Ostmitteleuropas und zunehmend des skandinavischen Raumes.

Zur Gründung der AB war es gekommen, nachdem Streitigkeiten mit der Pommerschen Landsmannschaft über die Inhalte der Arbeit zu einem Bruch sowohl mit dem bisherigen Leiter der Ostsee-Akademie, Dr. Dietmar Albrecht, als auch mit den finanziellen Trägern der Arbeit, mit Bundes- und Landesministerien, gekommen war. Vor allem Äußerungen der Pommerschen Landsmannschaft gegen eine Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands und die damit zusammenhängende Infragestellung von bestehenden Grenzen hatten diesen Bruch provoziert.
Ein Förderverein, dem unter anderem die Deutsch-Baltische Landsmannschaft und das Thomas-Mann-Kulturzentrum Nida angehören, übernahm nun die Trägerschaft der AB, die Leitung liegt in den Händen von Dr. Dietmar Albrecht. Finanziell getragen wird die AB – zumindest in der Anfangsphase – von Mitteln des Bundes und des Landes Schleswig-Holstein. Im diesjährigen AB-Programm finden sich rund 50 Veranstaltungen mit Osteuropa- und Ostseeraum-Bezug, wie eine Tagung „Lettland in Europa“ im Mai und eine Reise „Jüdische Spuren in Litauen und Lettland“ im September. „Baltische Rundschau“-Mitarbeiter Heiko Stern hat mit Academia Baltica Direktor Dr. Dietmar Albrecht über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesprochen.
Man kann von einer Geburt der Academia Baltica sprechen, eigentlich von einer Art Wieder- geburt. Fühlen Sie sich als Gebärender?
Dietmar Albrecht: Soweit ein Mann ein Kind zur Welt bringen kann, fühle ich mich schon als Gebärender, denn dieses neue Kind ist unter schmerzhaften Wehen zur Welt gekommen. Aber das Produkt ruft nun große Genugtuung hervor.
Wird es im Vergleich zur Ostsee-Akademie spürbare Veränderungen geben?
Dietmar Albrecht: Ich hoffe, dass wir nun befreit sind vom alltäglichen Kleinkrieg, von der Forderung, Vertriebeneninteressen und Interessen von Funktionären der Vertriebenen immer stärker zu berücksichtigen. Wir können die Arbeit nun dynamischer und bei Einsatz sehr knapper personeller Möglichkeiten auch gezielter und konkreter und viel breiter entfalten. Davon verspreche ich mir gute Perspektiven. Auch der Umzug in die Lübecker Altstadt rückt uns viel näher an die hansische Tradition. Ich habe das Gefühl, dass sich auch daraus eine ganz neue Dynamik entwickeln wird.
Wo liegen die Schwerpunkte der Arbeit der Akademie?
Dietmar Albrecht: Unser Auftrag von seiten der Bundesregierung – und hinter ihr steht ja der Steuerzahler – ist, für gute Nachbarschaft zwischen den Deutschen und den Ländern im Osten zu sorgen. Wir haben dafür möglichst viele Interessenten zu gewinnen, Interessenten aus Deutschland, die auch bereit sind zu zahlen für die Seminare, die Begegnungen, die diesem Ziel folgen. Und wir werben die Mittel ein, damit möglichst viele Nachbarn, ohne in die eigene enge Tasche greifen zu müssen, an ihnen teilnehmen können. Das ist das wichtigste Ziel.
Wir werden in Deutschland weitere Kreise gewinnen und ihr Interesse wecken müssen für die Arbeit mit unseren östlichen Nachbarn, denn in Deutschland ist die Neugierde am Osten Europas und die Bereitschaft, sich dort auch zu engagieren, immer noch verhältnismäßig gering.
Wenn Sie vom Osten Europas sprechen, an welche Länder denken Sie dabei am ehesten?
Dietmar Albrecht: Ja, unsere nächsten Nachbarn sind naturgemäß Polen und auch Tschechien, aber darüber hinaus die drei baltischen Republiken, und gerade Litauen in Verbindung mit dem Königsberger Gebiet und dem südlichen Ostpreußen liegt uns besonders nahe. Denn in dieser Region des alten Preußen entfaltet sich eine transnationale Gemeinsamkeit von Litauern, Russen, Polen und Deutschen, die für Europa zukunftsweisend sein kann. Ich glaube, da skizziere ich die Perspektive in die Zukunft richtig.
Darüber hinaus wollen wir aber in wachsendem Maße die Staaten des Nordens interessieren für den Süden und den Osten der Ostsee. Ich hoffe, wir können in diesem Gebiet verstärkt arbeiten, denn die Skandinavier und vor allem die Finnen haben wichtige Aufgaben in der Nachbarschaft mit den baltischen Staaten, mit den nördlichen Wojwodschaften Polens und mit der sehr schwierigen Kaliningrader Oblast, die zum schwarzen Loch hier in der Mitte Europas zu werden droht. Da werden wir uns alle noch verdammt anstrengen müssen.
Welche Partner haben Sie in Osteuropa? Sind es eher die gesellschaftlichen Eliten in diesen Ländern, mit denen Sie arbeiten wollen, auch im Sinne von Multiplikatoren, oder orientieren Sie sich an allgemein Interessierten?
Dietmar Albrecht: Ich halte nicht soviel von verkopfter Arbeit, denn da weiß schon immer jeder vom anderen, was er sagen wird. Die Eliten verkehren ohnehin miteinander. Sie sind oft recht abgehoben. Ich möchte über die mittlere Ebene, und das sind etwa Schulleiter von Dorfschulen oder Leiter von kleinen Museen, die Menschen vor Ort erreichen. Ich möchte zur unteren Ebene hinunter, soweit es geht und soweit es auch finanziell vertretbar ist.
Mit welchen Institutionen, Netzwerken und sonstigen Partnern wollen Sie zusammenarbeiten?
Dietmar Albrecht: Ein lieber und vertrauter Partner ist das Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nidden. Wir haben etliche Begegnungen bereits in Nidden durchgeführt, nicht nur zwischen Deutschland und Litauen, Polen und der Kaliningrader Oblast, sondern auch mit den skandinavischen Nachbarn. Dies wird sich verstärken.
Dazu kommen die Kulturvereinigung Borussia in Allenstein und Einrichtungen in Königsberg. Dies wird ein Schwerpunkt sein. Wir hoffen auch die lettischen und estnischen Nachbarn zu gewinnen für diese gemeinsame Arbeit vor Ort, etwa auf der Nehrung in Nidden oder in den benachbarten Regionen.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Arbeit mit dem westukrainischen Nachbarn, der etwas verloren, etwas heimatlos in Europa lebt, und auch mit dem tschechischen und slowakischen Nachbarn.
Wo liegen die Ziele der Tätigkeit der Academia Baltica, auch aus Ihren persönlichen Wünschen heraus?
Dietmar Albrecht: Wir möchten helfen, dass die Menschen überall, wo sie seit dem letzten Krieg wohnen, Wurzeln schlagen, sich sicher fühlen, eine Heimat haben. Es gab eine riesige, oftmals blutige Völkerwanderung in Europa, die zu großer Unruhe und Unsicherheit geführt hat.
Ich habe das Gefühl, dass in den Gebieten, wo die Menschen ausgewechselt wurden, immer noch eine große Geschichtslosigkeit und auch Heimatlosigkeit herrschen. Wir wollen, dass alle Menschen dort Sicherheit gewinnen, wo sie leben. Das ist Sicherheit von unten, die dauerhafter ist als alle politische oder militärische Sicherheit von oben.
Das Gedächtnis der Zeit und des Raumes mit dem eigenen Leben zu verbinden, das ist etwas, bei dem wir in allen diesen Regionen helfen wollen. Ich sehe das als eine ganz wichtige europäische Aufgabe der Zukunft, gerade angesichts der jüngsten weltpolitischen Entwicklungen.
Wie sind Sie selbst zu dieser Arbeit gekommen, wie wird man sozusagen Spiritus Rector der Academia Baltica?
Dietmar Albrecht: Ich habe es mit dem Osten. Ich war im Fernen Osten, in China. Von dort habe ich historische Gelassenheit und auch die Fähigkeit mitgebracht, sich neben Europa zu stehen und sich selbst zu beobachten. Die biographisch, e
motional, irrational und seelisch bedingte Liebe zum Osten verbinde ich mit dem, was ich in den zehn Jahren in und mit China gelernt habe.
Gerade in Litauen stößt dies auf eine seltsame Verwandtschaft, vielleicht weil Litauen noch in großen Teilen eine agrarische, archaische Gesellschaft ist. Das Verständnis für den Osten ist den Deutschen mit dem Verlust der Ostgebiete gleichfalls verloren gegangen. Aber dies ist ein Beitrag, den die Deutschen in ihrer Mittellage leisten müssen. Die Chance dazu haben wir in diesen Jahren.
Diese Chance wird nicht auf unabsehbare Zeit bestehen bleiben, das Pendel der Geschichte schlägt weiter, und wir müssen in diesen Jahren, die wir überschauen können, den Menschen Sicherheit geben und unfriedliche Entwicklungen in der Zukunft nach Möglichkeit vermeiden helfen. Das ist eine Aufgabe, die füllt ein Leben aus und die wird mir auch weiterhin Freude machen.

Baltische Rundschau Nr. 4, April 2002

"Sag niemals, dass Du gehst den letzten Weg"

Ghetto Theater Festival in Vilnius: Gedenken an das Juden-Massaker

von Judith Benedikta Lewonig

Ein überaus wichtiger Bereich der litauischen Kultur – nämlich die jüdische – ist mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Wüten der Nationalsozialisten und willfähriger Kollaborateure vollständig untergegangen. Rund 200.000 jüdische Menschen wurden in ganz Litauen ermordet. Mehr als 50.000 Jugendliche und Kinder. Eine Todesrate von 94 Prozent, der höchsten in ganz Europa. Nicht einmal 9.000 litauische Juden überlebten den höllischen Holocaust. Allen Gefahren zum Trotz bildeten sich auch im Ghetto von Vilnius Widerstandsgruppen. Der Widerstandsgeist manifestierte sich nicht zuletzt in einer ausgeprägten Liedkultur. "Sag niemals, dass Du gehst den letzten Weg", ein Kampflied, das von Vilnius den Weg in andere Ghettos und Lager fand. Im Staatlichen Jüdischen Museum Litauens erinnert die Dauerausstellung "Katastrofa" mit Fotografien, Texterläuterungen und Originaldokumenten an den Holocaust. An die Vernichtung des "litauischen Jerusalems" innerhalb von nur zwei Jahren nach dem Einmarsch deutscher Truppen 1941, mit der jäh eine ins 14. Jahrhundert zurückreichende jüdische Tradition ausgelöscht wurde. Wilne, der jiddische Name für die litauische Hauptstadt, entwickelte sich zum Zentrum des religiösen und wissenschaftlichen Judentums. Wilne war ebenso Zentrum der modernen hebräischen Literatur wie auch des jüdischen Buchdrucks. Als eine der stärksten Persönlichkeiten und einflussreichsten Gelehrten gilt bis heute der Wilner Rabbiner Elijah Ben Salomon Salman (1720 – 1797), der als "Gaon von Wilne" bereits zu Lebzeiten zur Legende geworden war. Zum 200. Todestag findet im September dieses Jahres in Vilnius eine Konferenz statt, zu der sich bislang bereits mehr als 900 Interessenten aus der ganzen Welt angemeldet haben. Und in Wilne hatte sich auch eine der ersten jüdischen Arbeiterbewegung gebildet (1897). Nach den Wirren des Ersten Weltkrieges, von denen auch die jüdische Gemeinde in Wilne arg betroffen war, brachte die Zwischenkriegszeit zahlreiche Neuerungen. So wurde 1925 das Jüdische Wissenschaftliche Institut (YIVO) mit Hauptsitz in Wilne gegründet, wo eine Bibliothek mit mehr als 100.000 Bücher, ebenso vielen Manuskripten und neben anderen eine Theatersammlung eingerichtet wurde. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten rund 60.000 Jüdinnen und Juden in Wilne und 215.000 nich-jüdische Personen. Die "Endlösung der Judenfrage" der Nazi-Maschinerie traf auch die jüdische Bevölkerung in Litauen mit aller unmenschlichen Grausamkeit. Innerhalb von nur vier Monaten (Juli bis Oktober 1941) war etwa 80 Prozent der jüdischen Bevölkerung ermordet worden. Mehr als 150.000 Männer, Frauen und Kinder. Anfang September 1941 wurden im sterbenden Wilne rund 40.000 Juden in zwei Ghettos ………. litauischen Juden, den Tod. Das kleinere Ghetto wurde nach einem Monat wieder aufgelöst. Trotz aller Todesahnungen, trotz aller Qualen, trotzt aller Angst und trotz allen Elends entwichelten sich innerhalb und außerhalb des Ghettos Widerstandsgruppen, die jedoch letztlich erfolglos blieben. Am 23. September 1943 wurde das Vilniusser Ghetto aufgelöst. Von den rund 60.000 "Wilne" – Juden überlebten etwa 200 bis 3.000 das entsetzliche Morden der deutschen Nationalsozialisten, ihren österreichischen Helfern, wie Franz Murer, als "Schlächter von Vilnius" zu trauriger Berühmtheit gelangt sowie ihren litauischen Kollaborateuren. Von den rund 130 Synagogen – die berühmte "Große Synagoge" wurde von Napoleon mit Notre Dame verglichen – in Wilne ist eine einzige übriggeblieben. Heute leben in ganz Litauen etwa 6.000 jüdische Menschen, wobei vor allem die Jungen hier keine Zukunft sehen und emigrieren. "Daher ist es umso wichtiger, im Bereich des Museums umfangreiche Arbeit zu leisten, um für die Verbliebenen hier die jüdische Kultur aufrechtzuerhalten, die jüdische Kultur wiederzubeleben. Und ich als "neutraler" Österreicher habe hier viele Möglichkeiten, Positives beizutragen. Auch ein Zeichen des niemals Vergessens zu setzen, und zu zeigen, dass wir Österreicher nun anders denken als unsere in Wilne, Theresienstadt, Auschwitz usw. mordenden Landsleute", nimmt Markus Ebenhoch seine Aufgabe sehr ernst. Der 20jährige, überaus engagierte und kompetente Vorarlberger leistet im Rahmen des Gedenkdienstes, des österreichischen Äquivalents zur deutschen "Aktion Sühnezeichen", im Jüdischen Museum von Vilnius seinen Zivildienst. Durch enormen Einsatz, umfassenden Fachwissen, hervorragenden Sprachkenntnisse und durch sein gewinnendes, sympathisches ……. Anläßlich des Gedenkens an das vor 55 Jahren gegründete Ghetto-Theater findet vom 10. bis 13. April 1997 in Vilnius das Ghetto-Theater-Festival mit internationaler Beteiligung statt. Das polnische Teatr Nowy zeigt in Anwesenheit des Autors Josos Sobols bekanntes Werk "Ghetto", die Marburger Theaterwerkstatt gastiert mit "Umschlagplatz. Laufschritt." (in deutscher Sprache) und das Vilniusser Kleine Theater bringt ein Stück des Exillitauers Kanovicius. Der deutsche Botschafter Ulrich Rosengarten, …

 

Baltische Rundschau, März 1997